Die BiodiversitĂ€t umfasst eine Vielzahl an LebensrĂ€umen, Arten und Genen mitsamt ihren Wechselwirkungen [1]. VielfĂ€ltige und funktionsfĂ€hige Ăkosysteme sind die Grundlage unserer ErnĂ€hrung, regulieren unser Klima, liefern saubere Luft und sauberes Wasser und sind ausserdem Voraussetzung fĂŒrs mentale Wohlbefinden. Verschiedene Arten haben oftmals unterschiedliche Funktionen in einem Ăkosystem. Dies erhöht die Effizienz, mit der eine Artengemeinschaft die verfĂŒgbaren Ressourcen nutzt [2]. Zudem fĂŒhrt eine hohe Anzahl Arten (und damit eine hohe BiodiversitĂ€t) zu Redundanzen bei den Funktionen, was zu mehr StabilitĂ€t von Ăkosystemleistungen fĂŒhrt [3, 4].
Aufgrund der zentralen geografischen Lage in Europa entwĂ€ssert die Schweiz ĂŒber fĂŒnf verschiedene Flusssysteme in vier Meere. Dies hat dazu gefĂŒhrt, dass in Schweizer GewĂ€ssern eine hohe Artenvielfalt von Fischen beheimatet ist [5]. Dies ist darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass in diesen Flusssystemen die Fischarten ĂŒber Hunderttausende von Jahren weitgehend getrennt voneinander entstanden sind, wobei sie die Schweiz erst nach dem RĂŒckzug der Eiszeitgletscher wieder besiedeln konnten. Doch diese DiversitĂ€t ist heute stark bedroht, denn wir befinden uns momentan im sechsten weltweiten Massenaussterben von Arten. JĂ€hrlich sterben derzeit so viele Tier- und Pflanzenarten aus, wie es dies im Verlauf der Erdgeschichte nur fĂŒnf Mal gab [6]. WĂ€hrend die frĂŒheren Massenaussterben von Naturkatastrophen wie grossen MeteoriteneinschlĂ€gen oder VulkanausbrĂŒchen verursacht wurden, ist das heutige Massensterben von Menschen verursacht [6].
Der Verlust von BiodiversitĂ€t fĂŒhrt unweigerlich zu einem fĂŒr den Menschen problematischen Verlust von Ăkosystemleistungen, weshalb die Erhaltung der BiodiversitĂ€t eine prioritĂ€re Aufgabe ist [7].
Die Schweiz ist mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte, ihrer langen Geschichte der Modifizierung der natĂŒrlichen LebensrĂ€ume sowie ihrer ursprĂŒnglich hohen Artenvielfalt ein potenzieller Hotspot fĂŒr den Verlust von aquatischer BiodiversitĂ€t. Es ist daher wenig ĂŒberraschend, dass die Schweiz von allen IndustrielĂ€ndern den höchsten Anteil an bedrohten Arten aufweist [8]. Allein im Verlauf des letzten Jahrhunderts sind in der Schweiz neun Fischarten ausgestorben [9], wobei die ausgestorbenen, endemischen Felchen- und Saiblingsarten noch nicht einmal berĂŒcksichtigt sind [10]. Heute (Stand 2022) gelten ganze 65% der einheimischen Fischarten entweder als ausgestorben, vom Aussterben bedroht, stark gefĂ€hrdet oder verletzlich [9].
Die BiodiversitĂ€t in GewĂ€ssern ist also akut und stark bedroht und muss besser geschĂŒtzt werden. Um sie effektiv schĂŒtzen zu können, muss sie allerdings auch bekannt sein. Ein Teil der FischbiodiversitĂ€t der Schweiz ist bis heute nicht bekannt, und so kann ihr möglicher RĂŒckgang nicht dokumentiert werden. Durch das Wissen um lokale Eigenheiten â damit sind auch innerartliche Variationen gemeint â und die BerĂŒcksichtigung davon beim Schutz und der Bewirtschaftung kann dem weiteren BiodiversitĂ€tsverlust besser entgegengewirkt werden. Zudem erhöht eine taxonomisch genauer aufgelöste Erfassung der DiversitĂ€t die Möglichkeiten fĂŒr EntscheidungstrĂ€gerinnen und -trĂ€ger, NaturschutzbemĂŒhungen zugunsten der am stĂ€rksten gefĂ€hrdeten Arten zu priorisieren.
Bis vor Kurzem wurde der Grossteil der in Schweizer FliessgewĂ€ssern vorkommenden Fischarten nie genetisch und morphologisch untersucht. Um die BiodiversitĂ€t der Fische unserer FliessgewĂ€sser zu kennen, war daher eine flĂ€chendeckende, standardisierte Probenahme und Untersuchung notwendig und wurde im Rahmen des Progetto Fiumi erstmals flĂ€chendeckend fĂŒr FliessgewĂ€sser durchgefĂŒhrt. Folgende Ziele wurden verfolgt:
Das Hauptziel vom Progetto Fiumi war, die BiodiversitĂ€t der Fische in den Schweizer FliessgewĂ€ssern auf allen Ebenen zu dokumentieren. Die untersuchten Ebenen umfassten Individuen, Populationen, Arten und Artgemeinschaften. Zum ersten Mal wurde versucht, die innerartliche DiversitĂ€t sowie jene von nah verwandten Arten zu dokumentieren. In Bezug auf die innerartliche DiversitĂ€t wurde vor allem die genetische, aber auch die morphologische Vielfalt und die Vielfalt in der Position im Nahrungsnetz erhoben. Es ging nicht darum, eine abschliessende Bewertung des Zustandes der BiodiversitĂ€t in Schweizer FliessgewĂ€ssern vorzunehmen, sondern eine flĂ€chendeckende Datenerhebung durchzufĂŒhren, um Grundlagen fĂŒr weitergehende Untersuchungen zu schaffen.
Um die beobachtete Vielfalt schĂŒtzen zu können, muss deren Zusammenhang mit den vorliegenden Umweltbedingungen verstanden werden. Aus diesem Grund wurden neben den Fisch- auch Insekten-, Algen- sowie weitere Umweltdaten erfasst.
Bis heute wurde ein Grossteil der Fischarten der Schweiz noch nicht flĂ€chendeckend morphologisch untersucht. Aufgrund der Unkenntnis, welche Methoden in Zukunft fĂŒr die Erforschung der Artenvielfalt zur VerfĂŒgung stehen werden, ist heute das Sammeln von Fischen und Gewebeproben wichtig. Dieses gesammelte Material kann dann in Zukunft mit bestehenden und neuen Methoden untersucht werden. Aus diesem Grund wurde ein Teil der gefangenen Fische konserviert, ebenso wurden standardisierte Fotos genommen sowie Gewebeproben archiviert. Diese Referenzsammlung steht Wissenschaftlern fĂŒr zukĂŒnftige Untersuchungen zur VerfĂŒgung.
WĂ€hrend der Projektdauer von fĂŒnf Jahren (2013â2017) wurden insgesamt 324 Standorte in FliessgewĂ€ssern untersucht (Fig. 1), die ein möglichst breites Spektrum von GewĂ€ssertypen, Höhenlagen und anthropogenen Beeinflussungen abdecken (s. [11] fĂŒr detaillierte Angaben).
Sofern methodisch möglich, wurde eine Strecke von rund 50 bis 100 Metern quantitativ in drei DurchgĂ€ngen abgefischt. Watbare, aber fĂŒr zwei Anoden zu breite, stellenweise zu tiefe oder zu strömungsintensive GewĂ€sser wurden semiquantitativ befischt (ein Durchgang, keine Sperre). Nicht watbare, grosse FlĂŒsse wurden mit einem Boot beprobt, das mit einem Anodenrechen ausgestattet war. Dabei wurden auf einer Strecke von mehreren hundert Metern bis zu zwei Kilometern ca. zwölf Streifen ausgewĂ€hlt, welche die verschiedenen Habitate in ihrer relativen HĂ€ufigkeit abdecken. Diese Streifen wurden dann elektrisch abgefischt. Bei qualitativen Befischungen schliesslich wurde gezielt nach spezifischen Arten gesucht, bzw. es werden bestimmte Habitate zum Erreichen der Stichprobengrössen gezielt befischt (Fig. 2).
Alle gefangenen Fische wurden im Feld anhand der Ă€usseren Merkmale sofern möglich auf Artniveau bestimmt. Die Bestimmung von Individuen aus schwierigen Artengruppen mĂŒssen im Labor oder anhand der Fotos verifiziert werden. Von jedem Standort wurden von jeder Art bis zu 30 Exemplare fĂŒr die Sammlung ausgewĂ€hlt und mit MS-222 euthanasiert, alle anderen Fische wurden wieder freigelassen. Individuen bedrohter Arten wurden grundsĂ€tzlich wieder freigelassen, nachdem sie betĂ€ubt, beprobt, fotografiert und vermessen wurden. Jeder fĂŒr die Sammlung bestimmte Fisch wurde mehrfach fotografiert (Fig. 3) und beprobt.
Des Weiteren wurden an jedem Standort diverse Umweltproben entnommen und verschiedene Umweltvariablen dokumentiert [11]: Die Fische und DNA-Proben (Flossengewebe) wurden in die Sammlung des Naturhistorischen Museums der Burgergemeinde von Bern aufgenommen und können in der permanenten Ausstellung «Wunderkammer» sogar eingesehen werden. SÀmtliche verbleibenden Proben werden an der Eawag in Kastanienbaum gelagert.
Im Rahmen des Progetto Fiumi wurden >12'000 DNA-Proben, >10'000 ganze Fische, >5000 Schuppenproben fĂŒr Wachstumsanalysen und >6000 Organproben fĂŒr weiterfĂŒhrende Untersuchungen archiviert. Die gesammelten Daten ermöglichen es, dass erste deskriptive Analysen ĂŒber die allgemeinen Muster der FischbiodiversitĂ€t in Schweizer FliessgewĂ€ssern durchgefĂŒhrt werden konnten. Einige ausgewĂ€hlte Ergebnisse werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt. Die ausfĂŒhrlichen Ergebnisse und verfĂŒgbaren Proben können dem Progetto-Fiumi-Synthesebericht entnommen werden [11].
Insgesamt wurden mehr als 50 Fischarten aus 39 Gattungen nachgewiesen. Die Anzahl gefangener Individuen der einzelnen Arten und Artengruppen sind in Figur 4. Einige wenige Arten wurden sehr hĂ€ufig beobachtet, wĂ€hrend andere nur selten in den FĂ€ngen vorkamen. Dieses Bild widerspiegelt jedoch nicht zwingend das effektive Vorkommen in der Schweiz. Denn zahlreiche untersuchte GewĂ€sser gehören zur Forellenregion, weshalb die dortigen Fischarten möglicherweise etwas ĂŒberreprĂ€sentiert sind. Bei einigen schwer bestimmbaren Arten sind noch nicht alle Individuen im Labor untersucht worden, weshalb diese unter dem Gattungsnamen dargestellt sind (z.âB. Salmo spp.)
Wird die DiversitĂ€t gewĂ€sserspezifisch betrachtet, fĂ€llt auf, dass in vielen GewĂ€ssern nur eine geringe Artenzahl vorkommt, und in wenigen GewĂ€ssern eine hohe (Fig. 5). An 17 Standorten wurden keine Fische gefangen und an 158 Standorten nur eine Art (meistens die Atlantische Forelle, Salmo trutta). Nur 16 Standorte waren mit zehn Arten und mehr artenreich. Diese lagen meistens an grossen FlĂŒssen im Flachland zwischen 230 und 470âm ĂŒ.âM. oder unweit von Seen. Die grösste Artenzahl wurde in grossen, aufgestauten FlĂŒssen vorgefunden, die ein seeĂ€hnliches Habitat aufweisen. Das bedeutet jedoch nicht, dass z.âB. eingestaute FlĂŒsse besonders wertvoll fĂŒr die FischdiversitĂ€t in der Region wĂ€ren. Im Gegenteil, sie können sogar als negativ angesehen werden, weil die in Staubereichen vorkommenden Fischarten meist Arten sind, die in Seen hĂ€ufig sind. Bedrohte Arten, die grössere zusammenhĂ€ngende Flusshabitate mit stĂ€rkerer Strömung benötigen, fehlen hingegen meistens. Kleine BĂ€che, insbesondere in hohen Lagen, beherbergen gewöhnlich wenige und mittelgrosse FlĂŒsse eine mittlere Anzahl Arten (Fig. 5).
Bei der Betrachtung der Artgemeinschaften (Fig. 6) wurden Familien oder Gattungen als dominant definiert, wenn 40% und mehr der Fische eines Standorts diesem Taxon angehörten. Es fÀllt auf, dass ein Grossteil der Standorte von Forellen (meist S. trutta) dominiert wird. An ungefÀhr 20% der Standorte dominieren Groppen oder Cypriniden. Einige Standorte werden von Arten anderer Gattungen dominiert. Des Weiteren gibt es eine Gruppe von Standorten, an denen keine Gattung vorherrschend ist.
Schweizer FliessgewĂ€sser weisen eine Vielzahl an verschiedenen Fischgemeinschaften auf. WĂ€hrend einige artenarme Konstellationen sich an zahlreichen Standorten wiederholen (z.âB. Atlantische Forelle und Groppe), werden spezifische artenreiche Gemeinschaften oft nur an wenigen oder einem einzigen Standort beobachtet. Von den 88 unterschiedlichen Gemeinschaften werden lediglich 14 an mehr als einem Standort vorgefunden (Fig. 7). Kleine FlĂŒsse in hohen Lagen werden meist von Forellen oder Groppen dominiert und haben kaum Unterschiede in ihrer Artenzusammensetzung. Obwohl viele kleinere FlĂŒsse von Natur aus artenarm sind, können sie dennoch zu einer grossen innerartlichen Gamma-DiversitĂ€t beitragen. Hingegen weisen mittelgrosse FlĂŒsse grundsĂ€tzlich eine höhere Variation zwischen den einzelnen Standorten, also höhere Unterschiede zwischen Gemeinschaften (Beta-DiversitĂ€t) auf.
Die laufenden Untersuchungen zeigen einige bisher unbekannte Muster der FischbiodiversitĂ€t auf. So fĂŒhrt eine Artbestimmung ohne BerĂŒcksichtigung von detaillierten taxonomischen und genetischen Daten innerhalb mehrerer Gattungen zu fehlerhaften Artzuweisungen (siehe auch [5]). Die Ergebnisse diesbezĂŒglich werden im Folgenden fĂŒr drei Gattungen kurz dargestellt. Weitere können dem Projet-Lac-Synthesebericht und dem Progetto-Fiumi-Schlussbericht entnommen werden [11, 13].
Die Gattung der Forellen wurde mit Abstand an den meisten Standorten gefangen (Fig. 8). Die gefangenen Forellen gehören fĂŒnf verschiedenen evolutionĂ€ren Linien an [14]. Die am weitesten verbreitete und hĂ€ufigste Forellenart ist die Atlantische Forelle (Salmo trutta), die ursprĂŒnglich in der Schweiz im Aare/Rhein- und im Genfersee-Einzugsgebiet heimisch war, heutzutage aber aufgrund anthropogener EinfĂŒhrungen ĂŒber die gesamte Schweiz verbreitet ist [15]. Die Forellen aus dem Doubs-Einzugsgebiet gehören der Rhone-Linie oder Zebraforelle (Salmo rhodanensis) an. Das adriatische Einzugsgebiet wurde ursprĂŒnglich von zwei weiteren Arten, der Marmorforelle (Salmo marmoratus) und der norditalienischen Bachforelle (Salmo cenerinus), bewohnt. Die fĂŒnfte Art ist die Donau-Forelle (Salmo labrax). Ihr natĂŒrliches Verbreitungsgebiet liegt im Inn und seinen ZuflĂŒssen im Engadin.
Alle Forellenarten ausser S. trutta stehen unter massivem Druck durch die EinfĂŒhrung von S. trutta in allen Einzugsgebieten. So ist bspw. S. cenerinus vom Aussterben bedroht [9], weil sie fast in ihrem gesamten Schweizer Verbreitungsgebiet komplett durch S. trutta verdrĂ€ngt wurde. Diese Art konnte nur noch im Poschiavino und in einem GewĂ€sser im Kanton Tessin nachgewiesen werden [13, 16].
Bis vor kurzer Zeit wurde angenommen, dass in der Schweiz nur eine Groppenart lebt: Cottus gobio. Anhand von genetischen Analysen ist nun bekannt, dass die Schweiz in mehreren Wellen von genetisch unterschiedlichen Linien besiedelt wurde. So gehören die Groppen von Doubs, Adriaeinzug und Aare/Rhein zu drei genetischen Linien [17]. Ausserdem wurde das Aare/Rheineinzugsgebiet offenbar in zwei Wellen kolonisiert, weshalb heute die Seen des Aareeinzugsgebiets von einer genetischen Linie bewohnt werden, wĂ€hrend die FliessgewĂ€sser desselben Einzugsgebiets unterhalb der voralpinen Seen, aber auch der Bodensee und der Genfersee, von einer anderen Linie bewohnt werden [17].1 Auch phĂ€notypisch sind diese Groppentypen oftmals unterscheidbar. Ausserdem kam es bei den Seegroppen innerhalb einiger Seen im Aare-Einzugsgebiet zu ökologischer Artbildung, wobei phĂ€notypisch und zumindest in einem Fall auch genetisch unterschiedliche Ufer- und Tiefenformen entstanden sind [17]. All diese Erkenntnisse weisen darauf hin, dass die GewĂ€sser der Schweiz heute von mehreren unterschiedlichen Groppenarten bewohnt werden, die nun noch taxonomisch bearbeitet werden mĂŒssen.
Bachschmerlen wurden an vielen Standorten in allen Einzugsgebieten mit Ausnahme von Po und Etsch gefangen. Bisher wurden alle Bachschmerlen der Schweiz einer Art (Barbatula barbatula) zugewiesen [14]. Genetische Analysen der in der Schweiz gesammelten Proben belegen nun das Vorkommen von drei differenzierten mitochondrialen Linien, die vermutlich drei verschiedenen Schmerlen-Arten angehören. Eine davon ist B. quignardi. Ihr Verbreitungsgebiet galt bisher als auf den SĂŒden Frankreichs westlich der Rhone beschrĂ€nkt. Nun wurde diese Art auch im Lac de Chalain, im Genfersee [13] und in der Allaine dokumentiert. DarĂŒber hinaus wurde in allen grossen Seen des Aare- und Limmatsystems eine Schmerlen-Linie nachgewiesen, die mit B. quignardi verwandt ist, sich jedoch seit mehreren Millionen Jahren getrennt von ihr entwickelt hat. Gleichzeitig wurde in allen FlĂŒssen derselben Region, sowie in Genfersee und Bodensee, eine noch weiter entfernt verwandte Linie gefunden [13]. Deshalb muss nun auch bei den Schmerlen der Artstatus taxonomisch neu erarbeitet werden.
Nebst den schweizweiten Analysen wurden teilweise auch schon geografisch begrenzte lokale Fragestellungen bearbeitet, die fĂŒr den Schutz der BiodiversitĂ€t von Bedeutung sind. So wurden z.âB. 722 Forellen aus verschiedenen Einzugsgebieten in GraubĂŒnden genetisch mittels mitochondrialer DNA untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass sĂ€mtliche Haplotypen aller in der Schweiz lebenden Forellenarten im Kanton GraubĂŒnden festgestellt wurden (Fig. 9). Der Rhein-Haplotyp dominiert dabei auch im Adria- und Donaueinzugsgebiet. Die Untersuchungen zeigen, dass im Engadin eine Vermischung der Forellenarten unterschiedlicher Linien stattgefunden hat. Dies hatte im Engadin vermutlich auch Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Forellen. Die Forellen weisen dort nĂ€mlich ein grösseres Spektrum an Farbmustern auf als anderswo im Kanton (Fig. 10).
Grund- und oberflĂ€chenwassergespeiste BĂ€che unterscheiden sich im Temperaturregime, in Fliessgeschwindigkeit, Abfluss, Substrat und Nahrungsangebot, was zu gewĂ€sserspezifischen Anpassungen bei den vorkommenden Fischen fĂŒhren kann. Deshalb wurden im Einzugsgebiet des VierwaldstĂ€ttersees in mehreren GewĂ€ssern der beiden Typen Umweltvariablen, Makroinvertebratenproben sowie genetische, morphologische, phĂ€notypische und Mageninhaltsdaten der Fische untersucht.
In grundwassergespeisten BĂ€chen belegen die Ergebnisse das Vorkommen von deutlich dunkleren und hochrĂŒckigeren Forellen als in oberflĂ€chenwassergespeisten GewĂ€ssern (Fig. 11) [18]. Auch Unterschiede bei der Nahrungsaufnahme zwischen Forellen aus den beiden GewĂ€ssertypen wurden gefunden. So ist der Grad individueller Spezialisierung auf bestimmte Beutetiere in grundwassergespeisten GewĂ€ssern signifikant höher als in oberflĂ€chenwassergespeisten [19]. Solche lokalen Unterschiede sind fĂŒr die Bewirtschaftung wichtig und können einen deutlichen Einfluss auf die Ăberlebenswahrscheinlichkeit von Fischen haben [20].
Die waadtlÀndischen Behörden haben im Oberlauf der Bioleyre, einem Zufluss der Broye, eine spezielle Population festgestellt, in der Forellen weder rote noch schwarze Punkte aufweisen. Im unteren Teil des Baches kommen ausschliesslich gepunktete Forellen vor und dazwischen beide sowie intermediÀre PhÀnotypen (Fig. 12).
Individuen verschiedener Standorte mit unterschiedlichen PhĂ€notypen wurden genauer untersucht. Die Resultate legen nahe, dass genetische Unterschiede zwischen den punktlosen und den gepunkteten Populationen bestehen (Fig. 13). Anscheinend kommt es an Standorten, an denen beide Typen vorkommen, zu einem Genaustausch zwischen den ForellenÂtypen. Ob sich die punktlose Population mit ihrem speziellen PhĂ€notyp in der Bioleyre entwickelt hat oder eingefĂŒhrt wurde, ist nicht abschliessend geklĂ€rt. Im Rahmen der Bewirtschaftung sollte dieser Eigenheit unbedingt Rechnung getragen werden.
Aufgrund der Wasserentnahme fĂŒr Kleinwasserkraftanlagen entsteht oftmals eine Restwasserstrecke mit stark reduziertem Abfluss. Die Reduktion des Abflusses und der GeschieberĂŒckalt am Wehr haben einen starken Einfluss auf das GewĂ€sser [21, 22] und auf die dort lebenden Organismen. Die ökologischen Auswirkungen dieser Anlagen auf die Bewohner der BergflĂŒsse sind bisher allerdings nur wenig untersucht worden.
Im Herbst 2014 und 2015 wurden an acht Kleinwasserkraftanlagen (Laufwasserkraftwerke mit Restwasserstrecke) jeweils drei Standorte bezĂŒglich ihrer Habitatbeschaffenheit, Makroinvertebratengemeinschaft und Forellenpopulation untersucht (Fig. 14). Die Ergebnisse zeigen in der Restwasserstrecke tendenziell eine geringere Dichte an sensiblen Makroinvertebraten (Eintagsfliegen, Steinfliegen und Köcherfliegen). Im Bereich der acht Kleinwasserkraftwerke waren Forellen mit einer Ausnahme die einzigen vorkommenden Fische (Ausnahme: Seesaiblinge aus dem Palpuognasee an der Anlage Preda am Albulapass). Es gab keine systematischen Unterschiede in Bezug auf die Populationsdichte der Forellen. Jedoch war das Körpergewicht relativ zur KörperlĂ€nge in vielen der Restwasserstrecken vermindert (Fig. 14).
Das Progetto Fiumi war in erster Linie ein Feldprojekt mit dem Hauptziel, eine reprĂ€sentative Referenzsammlung von Fischarten und -populationen der Schweizer FliessgewĂ€sser zu erstellen. Dabei sollten möglichst viele Standorte befischt und so viele Informationen und so viele Proben wie möglich gesammelt werden. Zusammen mit den ebenfalls umfassend erhobenen Umweltdaten stellt die Sammlung eine Grundlage fĂŒr zukĂŒnftige Analysen der FischbiodiverÂsitĂ€t der FliessgewĂ€sser dar. Diese ist in der Schweiz bereits jetzt stark bedroht und wird in Zukunft aufgrund des fortschreitenden Klimawandels und weiteren menschlichen EinflĂŒssen noch mehr in BedrĂ€ngnis geraten.
In den letzten Jahren ist das Bewusstsein unter Fachleuten gestiegen, dass eine bessere Kenntnis der Artenvielfalt, einschliesslich der Eigenschaften von lokalen Populationen in den verschiedenen GewĂ€ssern unverzichtbar ist. Durch die genetischen Analysen des Progetto Fiumi und des Projet Lac wurde ersichtlich, dass fĂŒr eine Bewertung der FischbiodiversitĂ€t die Identifizierung im Feld oftmals unzureichend ist. Ein betrĂ€chtlicher Teil der Schweizer FischdiversitĂ€t bleibt dem taxonomisch und ökologisch ungeschulten Auge im Feld verborgen und kann nur durch sorgfĂ€ltige Analysen von PhĂ€notypen und genetischem Material im Labor erkannt werden. Diese oberflĂ€chlich betrachtet «verborgene» DiversitĂ€t betrifft Arten innerhalb vieler Gattungen (u.âa. Barbatula, Gobio, Phoxinus, Cottus, Salmo) sowie distinkte Populationen innerhalb von Arten (z.âB. die punktlosen Bachforellen der Bioleyre), aber auch spezielle PhĂ€notypen/Genotypen innerhalb einer Population. FĂŒr die Erkennung, Vorhersage und Vermeidung von BiodiversitĂ€tsverlust bei Fischen und von Populationen mit lokalen Anpassungen sind eine verlĂ€ssliche Taxonomie auf Artniveau und ein gutes VerstĂ€ndnis der Prozesse, die der DiversitĂ€t und ihres Erhalts zugrunde liegen, unverzichtbar. Nur so kann die Vielfalt der Fische in der Schweiz hinreichend geschĂŒtzt werden.
FĂŒr die verlĂ€ssliche Identifikation von Fischarten sind vertiefte taxonomische Kenntnisse dringend erforderlich. Es gilt, diese zu erhalten, wo sie bestehen, und die Schaffung von taxonomischen FĂ€higkeiten zu fördern. Zudem sollte vermehrt eine Kombination von genetischen und morphologischen Methoden eingesetzt werden. Nur so wird es möglich sein, die Artenvielfalt in Zukunft vollstĂ€ndig zu erfassen und auch VerĂ€nderungen darin frĂŒhzeitig zu erkennen. Um die zukĂŒnftige Entwicklung der FischbiodiversitĂ€t zu dokumentieren, wĂ€re es zudem sinnvoll, alle DatensĂ€tze von standardisierten Befischungen und Sichtungen in einer öffentlich zugĂ€nglichen Datenbank zu sammeln. Ein gutes Beispiel fĂŒr eine derartige nationale Datenbank stellt die See- und FliessgewĂ€sser-Datenbank in Schweden dar. In dieser Datenbank sind fĂŒr Tausende Seen und FlĂŒsse quantitative Befischungsdaten der gesamten schwedischen Bevölkerung zugĂ€nglich. In Schweden werden nur Befischungsbewilligungen vergeben, wenn zugestimmt wird, dass die erhobenen Daten auch in diese Datenbank eingetragen werden.
Viele bedrohte Arten bewohnen die GewĂ€sser des Flachlands, die stark durch anthropogene Eingriffe betroffen sind. Heute sind in der Schweiz keine FliessgewĂ€sser von nationaler Bedeutung ausgeschieden, in denen diesen seltenen und bedrohten Arten ein hohes Gewicht bei InteressenabwĂ€gung zugestanden wĂŒrde. Die aktuelle energiepolitische Lage und die extreme Trockenheit im Jahr 2022 zeigt deutlich auf, dass die wenigen verbliebenen LebensrĂ€ume akut gefĂ€hrdet sind und dringend geschĂŒtzt werden mĂŒssen.
Schliesslich zeigen die Probenahmen und die bisherigen Ergebnisse aus dem Progetto Fiumi, dass ein Grossteil der Fischarten und insbesondere auch viele der gefĂ€hrdeten Arten in den grossen FliessgewĂ€ssern vorkommen. Die FischbestĂ€nde dieser GewĂ€sser und viele der darin vorkommenden Fischarten wurden bisher in der Schweiz, im Gegensatz zu BestĂ€nden der kleineren und mittleren FliessgewĂ€sser (dieses Projekt) und der Seen (Projet Lac) mit wenigen Ausnahmen, nicht standardisiert untersucht. Diese LĂŒcke sollte dringend noch geschlossen werden, um die DiversitĂ€t der Fische eingehender erfassen und schĂŒtzen zu können. Dabei sollte auch die innerartliche Vielfalt vergleichend zwischen kleineren und grossen FliessgewĂ€ssern erfasst werden, denn es ist denkbar, dass grosse FlĂŒsse und kleinere ZuflĂŒsse von unterschiedlich angepassten Varianten bewohnt werden.
[1] Cardinale, B.J. et al. (2012): Biodiversity loss and its impact on humanity. Nature; 486: 59â67
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[4] Schindler, D.E. et al. (2010): Population diversity and the portfolio effect in an exploited species. Nature; 465: 609â612
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[6] Ceballos, G. et al. (2015): Accelerated modern humanâinduced species losses: Entering the sixth mass extinction. Science Advances; 1: e1400253
[7] Schweizerischer Bundesrat (2017): Aktionsplan Strategie BiodiversitĂ€t Schweiz. Bern: Bundesamt fĂŒr Umwelt (BAFU), https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/fachinformationen/biodiversitaetspolitik/strategie-biodiversitaet-schweiz-und-aktionsplan.html
[8] Gattlen, N. et al. (2017): BiodiversitĂ€t in der SchweizâŻ: Zustand und Entwicklung. Ergebnisse des Ăberwachungssystems im Bereich BiodiversitĂ€t, Stand 2016. 1630, Bundesamt fĂŒr Umwelt BAFU
[9] Bundesamt fĂŒr Umwelt (2022): Info Fauna (CSCF). Rote Liste der Fische und RundmĂ€uler. GefĂ€hrdete Arten der Schweiz. Umwelt-Vollzug Nr 2217; 37
[10] Vonlanthen, P. et al. (2012): Eutrophication causes speciation reversal in whitefish adaptive radiations. Nature; 482: 357â362
[11] Brodersen, J. et al. (2023): Erhebung der FischbiodiversitĂ€t in Schweizer FliessgewĂ€ssern â Progetto Fiumi Schlussbericht, https://doi.org/10.55408/eawag:30020
[12] Hodapp, D. et al. (2018): Spatial heterogeneity in species composition constrains plant community responses to herbivory and fertilisation. Ecology letters 2018; 21: 1364â1371
[13] Alexander, T.J., Seehausen, O. (2021): «Projet Lac» synthesis report. Diversity, distribution and community composition of fish in perialpine lakes. Eawag
[14] Kottelat, M.; Freyhof, J. (2007): Handbook of European freshwater fishes. Cornol: Publ. Kottelat
[15] Vonlanthen, P.; Hefti, D. (2016): Genetik und Fischerei. Zusammenfassung der genetischen Studien und Empfehlungen fĂŒr die Bewirtschaftung. Umwelt-Wissen 1637, Bern: BAFU
[16] Molina, C. (2019): CaractĂ©risation gĂ©nĂ©tique des truites de riviĂšre du Canton Tessin. CAS Poissons dâeau douce dâEurope â Ecologie et Gestion., https://m4.ti.ch/fileadmin/DT/temi/pesca/rapporti/CAS__ChristopheMolina_Caracterisation_genetique_des_truites_de_riviere_du_Canton_Tessin.pdf
[17] Lucek, K. et al. (2018): Distinct colonization waves underlie the diversification of the freshwater sculpin (Cottus gobio) in the Central European Alpine region. Journal of Evolutionary Biology 2018; 31: 1254â1267
[18] Dermond, P. (2019): Heritable morphological differentiation in salmonids from two distinct stream types. Journal of fish biology; 95: 1215â1222
[19] Dermond, P. (2018): Environmental stability increases relative individual specialisation across populations of an aquatic top predator. Oikos; 127: 297â305
[20] Araki, H. et al. (2008): Fitness of hatchery-reared salmonids in the wild. Evolutionary applications; 1: 342â355
[21] Anderson, D. et al. (2015): The impacts of ârun-of-riverâ hydropower on the physical and ecological condition of rivers. Water and Environment Journal; 29: 268â276
[22] Lange, K. et al. (2018): Multiple-stressor effects on freshwater fish: Importance of taxonomy and life stage. Fish and Fisheries; 19: 974â983
BiodiversitĂ€t ist ein Begriff, der uns stĂ€ndig begegnet. Oft wird damit die Artenvielfalt gemeint, doch der Begriff geht weit darĂŒber hinaus. Denn BiodiversitĂ€t wird definiert als die Vielfalt des Lebens auf der Erde und umfasst nicht nur die Artenvielfalt, sondern reicht von der Vielfalt an verschiedenen Ăkosystemen bis zur genetischen Variation innerhalb einer Art. Des Weiteren wird zwischen drei verschiedenen Typen von DiversitĂ€t unterschieden. Betrachtet man die Artenvielfalt auf lokaler oder regionaler Ebene, z.âB. einen Bach, dann spricht man von Alpha(α)-DiversitĂ€t. Die Gamma(Îł)-DiversitĂ€t umfasst alle vorkommenden Arten auf einer etwas grösseren Skala, z.âB. der ganzen Schweiz. Schliesslich beschreibt die Beta(ÎČ)-DiversitĂ€t, wie unterschiedlich die Alpha-DiversitĂ€ten zwischen Standorten sind, ob also in allen BĂ€chen mehr oder weniger dieselben Arten vorkommen oder ob es ganz viele verschiedene Artgemeinschaften gibt.
HĂ€ufig steht auf der Agenda von Management- und Renaturierungsprojekten die Erhaltung und manchmal auch die Erhöhung der lokalen Artenvielfalt (Alpha-DiversitĂ€t). DarĂŒber hinaus ist es bei BiodiversitĂ€tsbewertungen aber auch wichtig, die Unterschiede zwischen Gemeinschaften (Beta-DiversitĂ€t) zu berĂŒcksichtigen. In unterschiedlichen Gemeinschaften können die einzelnen Arten verschiedene ökologische Rollen einnehmen, denn eine einzelne Art kann von der An- oder Abwesenheit einer anderen Art stark beeinflusst werden. Eine hohe Beta-DiversitĂ€t kann als Indikator einer hohen regionalen DiversitĂ€t gesehen werden. DemgegenĂŒber deutet eine tiefe Beta-DiversitĂ€t darauf hin, dass die Artgemeinschaften sich sehr Ă€hnlich sind. Dies kann eine Folge menschlicher EinflĂŒsse sein, da regionale Unterschiede homogenisiert werden (durch Einschleppung von Arten, Landnutzung, bauliche Eingriffe am GewĂ€sser, Wasserkraftnutzung etc.) [12].
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