Dank flächendeckender Abwasserreinigung, Phosphatverbot sowie Massnahmen in Industrie und Gewerbe hat sich die Gewässerqualität seit den 1960er-Jahren massiv verbessert. Augenscheinlich zeigt sich das darin, dass wir heute wieder überall baden können. Im Fokus stehen heute also nicht mehr schäumende und stinkende Flüsse, sondern optisch unsichtbare und geruchlose Mikroverunreinigungen. Es handelt sich dabei um organisch-synthetische Stoffe, welche die Gewässer in Kleinstkonzentrationen belasten und Wasserlebewesen und Ökosysteme schädigen. Sie stammen aus der Landwirtschaft, aus Siedlungen und aus Industrie und Gewerbe. Gemäss dem Bericht des Bundesrates zum Postulat Hêche 2012 ist der Bereich «Industrie und Gewerbe» für zirka 20% der Mikroverunreinigungen in den Gewässern verantwortlich. Etwa 40% werden über das häusliche Abwasser eingetragen und weitere rund 40% gelangen durch mit Pestiziden behandelte landwirtschaftliche Flächen in die Gewässer.
Die nun publizierte Situationsanalyse fokussiert auf die Verunreinigungen aus Industrie und Gewerbe. In der Schweiz existieren schätzungsweise 20'000 bis 30'000 Betriebe, die ihr Abwasser auf eine zentrale ARA einleiten. Dazu gehören kleine und mittelgrosse Unternehmen, die KMU. Deren Abwassermanagement ist in den meisten Fällen aber auf «klassische» Schadstoffe wie Schwermetalle oder Öl- und Fettreste ausgerichtet und nicht auf Mikroverunreinigungen. Zahlreiche Betriebe haben jedoch ihre Produktionsprozesse sowie wasserintensive Wasch- und Reinigungsprozesse laufend optimiert, so dass immer weniger Abwasser anfällt. Rund 50 grössere Betriebe – insbesondere aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und der Lebensmittelbranche – behandeln ihr Betriebsabwasser selbst in einer betriebseigenen ARA.
» Schlussbericht Situationsanalyse: vsa.ch/Bericht-SA
Gemäss der Gewässerschutzgesetzgebung sind alle Betriebe verpflichtet, Massnahmen nach dem Stand der Technik zu treffen, soweit sie technisch machbar und wirtschaftlich tragbar sind. Projektleiter Pascal Wunderlin sagt denn auch: «Die bestehenden allgemeinen und besonderen Anforderungen an die Einleitung von Industrieabwasser gemäss Gewässerschutzverordnung werden heute in der Regel eingehalten». Also alles in bester Ordnung? «Nein», erklärt Wunderlin, «Trotz des grossen technischen Fortschritts der letzten Jahre gelangen Mikroverunreinigungen nach wie vor mit dem gereinigten Betriebsabwasser in die Gewässer, teilweise unerkannt und teilweise in grossen Mengen». Der Stand der Technik ist vielmals nicht auf diese Stoffe ausgerichtet und zudem ist die Stoffvielfalt riesig. Man findet nur was man misst. Heute befinden sich weltweit rund 100'000 Chemikalien im Umlauf. Jährlich werden über 400 Millionen Tonnen an Stoffen produziert. Dabei fehlen in den Betrieben und den Behörden oftmals die Kenntnisse über einzelne Inhaltsstoffe der eingesetzten Produkte. Eine Ausnahme stellen dabei die Betriebe der chemisch-pharmazeutischen Industrie dar, denen Einzelstoffe wie Ausgangsstoffe oder produzierte Wirkstoffe bekannt sind.
Das Team um Pascal Wunderlin hat in ihrer Analyse dokumentiert, dass einzelne Betriebe bis zu einer Tonne eines Stoffes verteilt über wenige Tage in die Kanalisation einleiten können. Auch gibt es Beispiele, wo Stoffe mit möglicherweise schädlichen Auswirkungen auf die Gewässerökologie in Gewässer gelangten. Gut wasserlösliche und auch schwer abbaubare Stoffe können sogar bis in nahe Trinkwasserressourcen gelangen.
Wunderlin erläutert die beobachteten Mengen an einem Beispiel eindrücklich: «Wird beispielsweise 1 Kilogramm eines Medikamentenwirkstoffs einmal wöchentlich eingeleitet, entspricht dies einer Jahresfracht von 52 Kilogramm. Oder anders ausgedrückt: bei einem Arzneimittel mit einem Wirkstoffgehalt von 50 mg pro Tablette entsprechen 52 Kilogramm rund 1 Million Tabletten, die im Gewässer landen.» Ist das nun viel? «Die einzelnen Konzentrationen in den Gewässern sind sehr tief», erklärt Wunderlin, «die eingeleiteten Stoffmengen aus einzelnen Betrieben können insgesamt aber beachtlich gross sein. Zudem können entlang eines Fliessgewässers viele verschiedene Stoffeinleitungen zusammenkommen. Über die Wirkung solcher Stoffgemische ist bis heute sehr wenig bekannt. Im Sinne der Vorsorge sind die Einträge in die Gewässer daher möglichst zu minimieren». Eine schweizweite Abschätzung des Risikos der Stoffeinleitungen aus Industrie- und Gewebebetrieben ist aufgrund der aktuellen Datenlage allerdings noch nicht möglich.
Die dokumentierten Beispiele zeigen punktuellen Handlungsbedarf in einzelnen Betrieben auf und illustrieren, wie durch ein erfolgreiches Zusammenspiel aus Messung, Quellenidentifikation, Behörde und Betrieb solche Stoffeinleitungen deutlich zurückgehen. Die betroffenen Betriebe treffen in Abstimmung mit den Behörden geeignete Massnahmen.
Betriebe mit bekannten Stoffeinleitungen stammen vielmals aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie, weil bei einigen dieser Betriebe eine gezielte Überwachung solcher Mikroverunreinigungen stattfindet. Bei anderen abwasserrelevanten Branchen der Schweiz gibt es hingegen keine systematische Erfassung solcher Stoffeinleitungen, das Wissen über deren Stoffeinträge in die Gewässer ist dementsprechend gering.
Nach Einschätzungen von Expertinnen und Experten sind die folgenden Branchen und Prozesse für Einträge von Mikroverunreinigungen in die Gewässer zu priorisieren:
Weitere relevante Branchen und Prozesse sind: Wäschereien, Malergewerbe, das Auto-/Transportgewerbe, sowie die Heiz- und Kühlprozesse, die branchenübergreifend zur Anwendung kommen.
Der Vollzug funktioniert gut für bekannte Stoffe mit gesetzlich verankerten Vorgaben, wie beispielsweise die Anforderungen des Anhang 3.2 der Gewässerschutzverordnung GSchV. Wunderlin weist auf eine Hauptherausforderung hin: «Für Mikroverunreinigungen aus Industrie- und Gewerbe existieren in der Gewässerschutzverordnung abwasserseitig keine stoffspezifischen Einleitwerte. Der Umgang mit solchen Mikroverunreinigungen stellt daher die Behörde wie auch für die Betriebe vor grosse Herausforderungen». Solche Werte sind im Einzelfall durch die Behörde festzulegen. Erschwerend kommt hinzu, dass für die meisten Betriebsabwässer sowohl das Wissen über die relevanten Mikroverunreinigungen als auch ein einheitliches Verständnis des Stands der Technik sowie ein harmonisiertes Vorgehen zur Festlegung von Einleitwerten fehlt.
Die zusammengestellte Situationsanalyse zeigt die Herausforderungen im Umgang mit Mikroverunreinigungen: sowohl die Betriebe selbst als auch die Vollzugsbehörden sind oft nur sehr beschränkt in der Lage, die in den Betriebsabwässern enthaltenen Mikroverunreinigungen zu erfassen und zu beurteilen. Das Ziel muss daher sein, diese Situation in den kommenden Jahren zu verbessern. Dazu haben die Fachleute der VSA-Plattform «Verfahrenstechnik Mikroverunreinigungen» zusammen mit dem BAFU, der EAWAG und den jeweiligen Branchen erste Projekte lanciert. In den nächsten Jahren wird eine Übersicht über die abwasserrelevanten Mikroverunreinigungen aus den priorisierten Branchen erarbeitet und dieses Wissen in die interkantonalen Leitfäden und Merkblätter zum Stand der Technik integriert. Im Weiteren werden Hilfestellungen im Umgang mit Mikroverunreinigungen für Behörden und Betriebe entwickelt und das erarbeitete Wissen an die Fachleute des betrieblichen Umweltschutzes weitergegeben.
Zum Schutz der Wasserlebewesen und der Trinkwasserressourcen werden bis 2040 ausgewählte ARA mit einer zusätzlichen Reinigungsstufe zur Elimination von Mikroverunreinigungen ausgebaut. Das Parlament hat dieses Vorgehen im März 2014 gutgeheissen und mit der Änderung des Gewässerschutzgesetzes der Schaffung einer gesamtschweizerischen Finanzierung dieser Massnahmen zugestimmt. Diese Bestimmungen sind am 1. Januar 2016 in Kraft getreten und die Umsetzung ist in vollem Gange. 2021 beschloss das Parlament zudem, weitere ARA mit einer zusätzlichen Reinigungsstufe auszurüsten, wenn in deren Gewässer die Grenzwerte gemäss der Gewässerschutzverordnung nicht eingehalten werden können.
Neben dem häuslichen Abwasser und der Landwirtschaft stellen auch industriell-gewerbliche Aktivitäten eine Quelle für Mikroverunreinigungen in den Gewässern dar. Eine Übersicht über die daraus resultierende Belastung der Gewässer fehlt allerdings. Aus diesem Grund sind gemäss dem Bundesrats-Bericht vom Juni 2017 «Massnahmen an der Quelle zur Reduktion von Mikroverunreinigungen» der Wissensstand zu verbessern und vertiefte Massnahmen zu prüfen.
Dazu hat das Bundesamt für Umwelt (BAFU) gemeinsam mit dem Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (VSA) eine schweizweite Situationsanalyse zu «Stoffeinträgen aus Industrie und Gewerbe in die Gewässer» initiiert. Die Durchführung und Koordination der Analyse erfolgte durch den VSA (Plattform «Verfahrenstechnik Mikroverunreinigungen»). Der Schlussbericht liegt vor und kann unter folgendem Link bezogen werden:
» Schlussbericht Situationsanalyse: vsa.ch/Bericht-SA
Dr. Pascal Wunderlin, Plattform «Verfahrenstechnik Mikroverunreinigungen» VSA
pascal.wunderlin@vsa.ch
Tel.: +41 58 765 50 37
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