Grundsätzlich können verschiedene Phasen in einer Gasmangellage unterschieden werden, wie in Figur 1 dargelegt. Im «normalen Betrieb» des Netzes (d. h. normale Gaslieferung) bestimmt der Markt, also der Verbrauch, die ins Netz eingespeiste Gasmenge. Im Falle einer Gasmangellage steht den Verbrauchern weniger Gas zur Verfügung, als eigentlich benötigt wird. An dieser Stelle greift der Mechanismus der KIO Gas, der Kriseninterventionsorganisation für die Gasversorgung in ausserordentlichen Lagen (siehe auch Artikel von D. Decurtins et al. zu den Vorbereitungen der KIO Gas für die Winterversorgung 2023/24): mittels Sparappellen, Umschaltung der Zweistoffanlagen, Einschränkungen für gewisse Anwendungen und zuletzt der Kontingentierung wird versucht den Verbrauch auf die verfügbaren eingespeisten Mengen abzustimmen. Gelingt es mit diesen Massnahmen, die Balance zwischen gelieferter und verbrauchter Gasmenge zu halten, wird es netzseitig zu keinen technischen Schwierigkeiten kommen. Sollte jedoch der Verbrauch immer noch grösser sein als das Angebot, so tritt der Fall ungenügenden Gasversorgung ein, schlimmstenfalls der unterbrochenen Gasversorgung.
Ab diesem Punkt gilt die im letzten Jahr neu geschaffenen SVGW-Empfehlung G1010 für Verteilnetzbetreiber bei Gasmangellage oder unterbrochener Gasversorgung. Diese gibt verschiedene Hilfestellungen, wie Netze oder Netzabschnitte möglichst lange in einem kontrollierten Zustand, also technisch sicher, gehalten werden können. Die Grundidee dabei ist, den Überdruck im Netz zu jeder Zeit sicherzustellen, so dass keine Luft ins Netz gelangt. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass ein brennbares Gemisch im Netz entsteht. Gelingt auch dies nicht, so sollten die Netze kontrolliert ausser Betrieb genommen werden, um die Wiederinbetriebnahme möglichst optimal zu gestalten. Beim extremen, zu vermeidenden Fall, bei dem die Netze «einfach leerlaufen», herrscht ein unkontrollierter Zustand. Es besteht dann die Gefahr, dass zündfähige Luft-Erd-/Biogas-Gemische im Netz vorliegen, was eine sehr aufwendige und sehr zeitintensive Wiederinbetriebnahme nach sich zieht.
Schon bevor es zu möglichen technischen Herausforderungen des Netzbetriebes während einer ungenügenden Gasversorgung kommt, kann und sollte der Netzbetreiber einige vorbereitende Massnahmen treffen, die im Eintretensfall sehr hilfreich sein werden.
So können auf der Ebene der Betriebsorganisation beispielsweise Ansprechstellen, Krisenstäbe, Personalbereitstellungen, Telefonlisten, Kundeninformationen oder das Bereitstellen von Material bereits vorab geklärt respektive zusammengestellt werden. Ebenso sind auf der Personalseite neben der Organisation von zusätzlichen Teams auch der Bereich Ausbildung und Kompetenzen sowie klare Einweisungen «Was ist zu tun, wenn …» relevant für ein etwaiges effizientes Handeln während einer Krisensituation.
Durch technische Vorabklärungen der Netzstruktur anhand von Netzplänen lässt sich ermitteln, welche Sektoren mittels Streckenschiebern gesteuert oder über Druckregelanlagen bei sinkendem Druck (Pmin) abgeschaltet werden. So werden wichtige Erkenntnisse gewonnen, um sinnvolle Massnahmen einleiten zu können. Auch können auf diese Weise Schwachstellen im Netz identifiziert werden, auf die ein besonderes Augenmerk zu richten ist. Schliesslich erlauben genaue Netzkenntnisse, Optionen von Lastverschiebungen auf andere Netzabschnitte oder Noteinspeisepunkte zu identifizieren.
Ein gutes Verständnis der Kundenstruktur wird im Notfall helfen, die «richtigen» Entscheidungen bei der Sicherung des Netzes zu treffen. Folgende Fragen sollten u. a. beantwortet werden: Welche Gasgeräte sind im Versorgungsgebiet installiert? Sind diese gegebenenfalls mit einer Gasmangelsicherung ausgerüstet? Sind die Geräte zündgesichert?
Neben diesen vorbereitenden Massnahmen gibt die G1010 auch detaillierte technische Empfehlungen, wie das Netz bei Eintritt der Störung (Druckabfall oder unterbrochene Gasversorgung) zu betreiben ist. Folgende Möglichkeiten werden beschrieben:
Kommt es zu den vorgängig beschriebenen schwerwiegenden Massnahmen, so muss im Anschluss das Netz wieder in Betrieb genommen respektive in den Regelbetrieb überführt werden. Das hat mit grosser Sorgfalt zu erfolgen, besonders wenn der Duck vorher nicht gehalten werden konnte und möglicherweise ein undefiniertes und potenziell brennbares Gasgemisch im Netz vorliegt. Die G1010 enthält daher auch Ablaufdiagramme, die verschiedenen Schritte zur sicheren Inbetriebnahme aufzeigen (siehe Beispiel in Figur 2).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die G1010 mit den vorbereitenden Massnahmen bei der Organisation, beim Personal, bei der Ermittlung der Netztopologie bis hin zu den technischen Massnahmen bei gestörter oder unterbrochener Gasversorgung befasst. Ferner wird darin beschrieben, wie die Netze mit Überdruck gehalten resp. nach einem Stillstand wieder in Betrieb genommen werden können.
Die Möglichkeit einer Gasmangellage wurde in der Vergangenheit von den Gasnetzbetreibern wie auch den Kommissionen des SVGW schon bedacht und in Dokumenten bearbeitet, jedoch nie so tiefgehend wie seit dem Frühjahr 2022. Stadtwerk Winterthur hat sich seitdem intensiv mit dem Thema der Gasmangellage und ungenügenden Gasversorgung beschäftigt und die ganze Bandbreite der bei einer Gasmangellage erforderlichen Massnahmen angeschaut. Dabei war von Vorteil, dass mit Christoph Meyer (Abteilungsleiter Rohrnetz Gas und Wasser) und Andreas Janisch (Abteilungsleiter Installationskontrolle Gas und Wasser) zwei Stadtwerk-Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für die Erarbeitung der neuen SVGW-Empfehlung G1010 vertreten waren. Die Beteiligung an den Arbeiten der AG führte nämlich dazu, dass bei Stadtwerk Winterthur alles im technischen Bereich Gas überdacht, hinterfragt und überprüft wurde. Teilweise wurden Prozesse neu definiert, andere dagegen wurden auf diese Weise gefestigt.
Bald zeigte sich auch, dass neben den organisatorischen und technischen Massnahmen eine gute Kommunikation immens wichtig ist, um die internen und externen Personen, Zielgruppen, zielführend und rechtzeitig zu informieren. Es müssen resultierend aus den technischen und gesetzlichen Anforderungen klar und deutlich die Möglichkeiten und Erfordernisse rechtzeitig kommuniziert werden, ohne Angst oder Panik zu verbreiten. Stadtwerk Winterthur hat sich diesen ganzen Aufgaben gestellt und eine interne AG «Gasmangellage» gegründet, die sich grundsätzlich wöchentlich trifft. Die Arbeitsgruppe setzt sich zusammen aus Mitgliedern der Kommunikation, des Vertriebs, des Gashandels, dem Backoffice und vor allem aus dem Bereich Technik Gas.
In dieser AG wurden alle Themen, Anforderungen sowie Massnahmen besprochen und initiiert. Die SVGW-Empfehlung ist zwar sehr hilfreich, ist aber keinesfalls ein Rezeptbuch, das blind nachgekocht werden darf. Es gilt vielmehr: Jeder Gasnetzbetreiber muss sein Gasnetz, seine Gasanlagen, seine Strukturen und seine Anforderungen genau kennen. Auf Grundlage dieser umfassenden Kenntnisse kann er dann die richtige bzw. für ihn passende Organisation mit Prozessen und Massnahmen erarbeiten und zusammenstellen. Neben der Orientierung an der G1010 war für Stadtwerk Winterthur auch der Austausch mit anderen Gasnetzbetreibern hilfreich. Es wird daher jedem Gasnetzbetreiber empfohlen, den Austausch mit anderen Gasnetzbetreibern entweder direkt oder über den SVGW oder die VIGW zu suchen.
Im Folgenden sind die Abklärungen und ergriffenen Massnahmen beschrieben, die für die Erhöhung der technischen Sicherheit und des Sicherheitsbefindens der Mitarbeitenden bei Stadtwerk Winterthur sorgten:
Vom Backoffice wurden die Verbrauchswerte der drei Verbrauchsgruppen prozentual ermittelt:
Die EGO hat annähernd gleiche Werte für das Jahr 2021 ermittelt und somit die Ergebnisse von Stadtwerk bestätigt. Aus den Zahlen lässt sich erkennen, dass Stadtwerk Winterthur nicht viel Spielraum zur Kontingentierung bei ungeschützten Kunden haben wird. Dieser Hebel ist also vernachlässigbar. Stattdessen wird Stadtwerk das Augenmerk auf die geschützten Kunden richten müssen. Es gilt so lange wie möglich, die Versorgung dieser aufrechtzuerhalten.
Die Winterthurer Gasversorgung in der vorteilhaften Lage, einen Röhrenspeicher und einen Kugelspeicher zu besitzen. Bei der Nutzung der Speicherkapazitäten wurden neu die technischen Anforderungen gegenüber den Wünschen des Gashandels in den Vordergrund gestellt. Demzufolge werden die Speichervolumen nicht mehr vom Handel ausgenutzt, sondern sie können bei einem Gasmangel zum Druckausgleich und zur Druckhaltung verwendet werden, um so die technische Sicherheit zu gewährleisten.
Der Bereich Technik Gas hat sich intensiv mit den Anlagen, dem Rohrnetz und der Gebäudeinstallation beschäftigt und die verschiedenen Szenarien gemäss Figur 1 durchdacht. Die Gasversorgung umfasst Folgendes:
Für Szenario 3 «Unterbrochene Gasversorgung – ungenügende Gaslieferung» formulierte Stadtwerk Winterthur folgende Grundsätze und Regeln:
Bei Eintreten einer solchen Situation wird Stadtwerk folgende Massnahmen durchführen:
Nicht zündgesicherten Herde stellen in einer Gasmangellage eine grosse Gefahr dar, weil bei erloschener Flamme oder unsachgemässem Schliessen bzw. Öffnen und anschliessendem Offen-Belassen ungehindert Gas austreten kann. Solch ein Gasaustritt muss unbedingt verhindert werden.
Wichtige Grundlagen für die Durchführung dieser Massnahmen im Eintretensfall durch Stadtwerk Winterthur sind:
Trotz dieser guten Ausgangslage hat die AG «Gasmangellage» aber schnell erkannt, dass bei einer ungenügenden Gasversorgung zur Umsetzung der Massnahmen in Gebäuden auf die Unterstützung durch Sanitärfirmen zurückgegriffen werden muss. Zurzeit beschäftigt sich Stadtwerk Winterthur mit der Planung und Organisation des Unterbruchs der Gaslieferung und der Wiederinbetriebnahme.
Die Bereiche Kommunikation und der Verkauf haben die Anforderungen vom Bereich Technik Gas verstanden, akzeptiert und kommunikativ umgesetzt. Stadtwerk Winterthur konnte somit frühzeitig informieren:
Zusätzlich fanden Informationsveranstaltungen mit dem zuständigen Stadtrat Stefan Fritschi und dem Stadtwerk-Direktor Marco Gabathuler statt für:
Die Informationsveranstaltungen wurden gut bis weniger gut besucht. Auf jeden Fall wurde den Kunden eine Plattform angeboten. Die anwesenden Kunden haben mehrheitlich positiv reagiert, und auch die skeptischen Kunden konnten am Ende der Veranstaltung positiv gestimmt den Anlass verlassen. Die Anlässe trugen dazu bei, Verständnis für die möglichen Situationen bei den Kunden zu schaffen. Die Anzahl der nicht zündgesicherten Herde konnte bisher durch die Informationskampagne um 220 Stück gesenkt werden. Die Anzahl der nicht zündgesicherten Herde wird in Zukunft sicherlich noch weiter sinken. Zur Unterstützung des Kundendienstes beauftragte Stadtwerk Winterthur ein Callcenter, das die eingehenden Routine-Anfragen beantworten kann und somit für Entlastung sorgt. Auf diese Weise werden nur spezielle Fragen oder Informationen an die zuständigen Bereiche weitergeleitet.
Stadtwerk Winterthur hat sich auf eine mögliche Gasmangellage gut und intensiv vorbereitet. Man ist sich bewusst, dass es wahrscheinlich auch Situationen geben wird, an die niemand gedacht hat. Diese lassen sich aber wahrscheinlich ebenfalls bewältigen, da die hauptsächlichen und zur jetzigen Zeit denkbaren Situationen berücksichtigt und organisiert wurden. Haben die Gasnetzbetreiber auf eine mögliche Gasmangellage gewartet? Sicherlich nicht. Dennoch hat die mit dem Beginn des Ukrainekrieges wahrscheinlicher gewordene Situation eines Gasmangels auch etwas Gutes: So wurde deutlich, wo die Gasversorgungsunternehmen bereits gut aufgestellt sind und wo noch Lücken bestehen. Dies sollte als Chance wahrgenommen werden und Netzbetreiber sollten sich vorbereiten auf alles, was immer da kommen mag.
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