Die EU-Kommission hat im Dezember 2019 den europäischen «Green Deal» vorgestellt [1]. Im Wesentlichen soll die Europäische Union im Jahr 2050 CO2-neutral sein. Dabei werden grüner Wasserstoff (aus erneuerbarem Strom) und blauer Wasserstoff (aus fossilen Energieträgern mit Einlagerung des freigesetzten CO2) eine wichtige Rolle spielen. Die Gründe für das Weiterbestehen von netzgebundenen, gasförmigen Energien in einer CO2-neutralen Energieversorgung der Zukunft sind die Diversifikation des Energiesystems, die Speicherbarkeit von Gasen und das hohe Energievolumen des leitungsgebundenen Transports.
Bis 2050 soll gemäss der Roadmap des Deutschen Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ein Basisnetz für Wasserstoff erstellt werden [2]. Die Schweiz sollte dabei die Leitungen der Transitgas AG wasserstofftauglich machen. Gemäss dem «European Hydrogen Backbone»-Projekt ist vorgesehen, dass ab 2030–2035 von Frankreich 100% Wasserstoff über die Gasnetze in die Schweiz kommt und ab 2035–2040 auf der Achse Deutschland–Italien [3].
Wie in der EU befindet sich in der Schweiz das Netto-Null auf der politischen Agenda. So setzt das in diesem Juni zur Abstimmung gelangende Klimaschutzgesetz das Ziel, Netto-Null im Jahr 2050 zu erreichen [4]. Als SchlĂĽsselfaktor zur Erreichung dieser Vorgabe gewinnt auch hierzulande Wasserstoff an Bedeutung. So hat das Parlament den Bundesrat Ende letzten Jahres beauftragt, eine nationale Strategie fĂĽr Wasserstoff aus CO2-neutralem Produktionsverfahren auszuarbeiten [5]. Es bestehen somit Perspektiven, dass auch die kĂĽnftigen gesetzlichen Rahmenbedingungen im Inland den Hochlauf von Wasserstoff begĂĽnstigen.
Energie 360° AG als Betreiberin eines lokalen Gasverteilnetzes in der Stadt Zürich, im Limmattal und in der Region Zürichsee sowie die Erdgas Zürich Transport AG (EZT), die das vorgelagerte lokale Transportnetz betreibt und zu 56% der Energie 360° gehört, haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Gasnetze fit für Wasserstoff zu machen. Konkret soll ihre Gasnetzinfrastruktur bis 2035 möglichst kostenneutral 100% H2-tauglich werden.
Damit tragen die beiden Unternehmen der oben skizzierten Entwicklung Rechnung und verschaffen sich Flexibilität für den zukünftigen Einsatz ihrer Gasnetze: So kann ein 100% wasserstoff-taugliches Gasnetz sowohl ausschliesslich Wasserstoff als auch ein Methan-Wasserstoff-Gemisch oder reines Methan transportieren.
Ein 100% H2-taugliches Gasnetz unterstützt Energie 360° zudem dabei, sich in Richtung ihres strategischen Leitzieles zu bewegen: «Wir transformieren unser Unternehmen und liefern bis 2040 ausschliesslich erneuerbare Energie.»
Mit dem Herangehen an das Thema Wasserstofftauglichkeit zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich ein Wandel kostengünstiger vollziehen als mit Zuwarten, da die Anforderung für 100% H2 beim notwendigen Ersatz von Leitungen und Anlagen bereits berücksichtigt werden können. Zudem ist der Zugang zu Leitungen im öffentlichen Grund in der Regel nicht beliebig möglich. Zum einen erfordern Bauarbeiten dort die Koordination mit anderen Leitungsbetreibern (z. B. Wasser, Strom, Telekommunikation), zum anderen die Zustimmung der Gemeinde.
Um ein wasserstofftaugliches Gasnetz zu realisieren, sind folgende Punkte wesentlich:
Da Wasserstoff andere Eigenschaften als Methan besitzt, stellen sich spezifische Anforderungen an das Gasnetz. So diffundiert Wasserstoff aufgrund der geringeren Molekülgrösse leichter als Methan, weshalb die Netzinfrastruktur bei 100% Wasserstoff höhere Anforderungen bezüglich Durchlässigkeit erfüllen muss als bei herkömmlichem Gas. Zentrale Punkte bilden die Beschaffenheit des eingesetzten Materials sowie die Art und Weise des Baus der Gasleitungen und -anlagen.
Für die Analyse der H2-Toleranz des Materials wurde ein Abgleich mit dem DBI-Kompendium «Wasserstoff in Gasverteilnetzen» [6] durchgeführt, das der SVGW seinen Mitgliedern zu Verfügung stellt. Das Kompendium ist ein Nachschlagewerk über den aktuellen Wissensstand zur H2-Kompatibilität von Materialien, Komponenten und zu Systemaspekten. Anschliessend wurde die Analyse mit dem DBI, einer Tochtergesellschaft des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches, weiter detailliert. Zudem wurden Informationen direkt bei den Herstellern eingeholt.
Beim heutigen Leitungsbau kommen als Materialien bei EZT und Energie 360° PE oder Stahl zum Einsatz. PE ist bezüglich Wasserstoff unproblematisch. Bei Stahlleitungen ist für die H2-Toleranz der verbaute Stahltyp massgebend. Bei höheren Druckstufen spielen zudem untergeordnet die auftretenden Druckschwankungen beim Transport von Wasserstoff eine Rolle. Hinsichtlich Stahltyp konnte mit dem DBI geklärt werden, dass alle Rohre, die aktuell in den Netzen von EZT und Energie 360° verbaut werden, in der aktuellen Druckstufe eine H2-Toleranz von 100% aufweisen.
Ein weiterer Punkt bei der H2-Tauglichkeit sind lösbare Verbindungen (z. B. Verschraubungen), da bei diesen ebenfalls eine Diffusion von Wasserstoff möglich ist.
Bei PE-Leitungen kommen bei EZT und Energie 360° lösbare Verbindungen seit 1995 nicht mehr zum Einsatz. Seit 2017 werden auch bei Stahlleitungen grundsätzlich keine lösbaren Verbindungen mehr verbaut und die rund 1% Ausnahmen, die aus technischen Gründen unvermeidbar sind, dokumentiert.
Lösbare Verbindungen kommen aktuell bei EZT und Energie 360° z. B. bei Messstutzen oder Druckregel-Messstationen zur Anwendung. Beim Netzanlagenbau ist somit die H2-Tauglichkeit noch sicherzustellen. Da Netzanlagen leicht zugänglich sind, können diese jedoch verhältnismässig leicht zu einem späteren Zeitpunkt ertüchtigt werden.
In Bezug auf die Diffusion von Wasserstoff stellen Schweissnähte an Stahlleitungen, die mit Cellulose-Elektroden verschweisst wurden, die dritte Herausforderung dar. Heutzutage werden bei EZT und Energie 360° die Schweissnähte mit Primer auf der Stahloberfläche und selbstverklebendem Isoliermaterial (Einbandsystem) aus Kautschuk ummantelt. Dadurch wird eine Diffusion weiter eingeschränkt.
Die Gasnetze von Energie 360° und EZT erstrecken sich zusammen über eine Länge von rund 1200 km und bestehen aus Kunststoff, Stahl oder Guss. Rund 690 km oder 55% dieser Netze bestehen aus Kunststoffleitungen. Bezüglich Material sind sie wasserstofftauglich, einzig Leitungen vor 1995 können lösbare Verbindungen besitzen.
Stahlleitungen sind auf rund 430 km oder 35% verlegt. Mit dem DBI konnte geklärt werden, dass nur drei Stahltypen unter Berücksichtigung der Druckstufe und der Wandstärke für reinen Wasserstoff ungeeignet sind: X65 und X70 (für ein max. 20%-H2-Gemisch geeignet) sowie X80 (auch für ein Gemisch von 20% H2 ungeeignet). Alle drei Stahltypen sind nach Erkenntnis von Energie 360° in den Netzen von EZT und Energie 360° nicht verbaut. Gemäss DBI kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die bestehenden Stahlleitungen hinsichtlich Material in der aktuellen Druckstufe vollständig wasserstofftauglich sind.
Es können jedoch lösbare Verbindungen und nicht wasserstofftaugliche Schweissnähte vorhanden sein. Lösbare Flanschverbindungen wurden in den Stahlleitungen bis in die 80er-Jahre regelmässig eingebaut, nachher nur noch in seltenen Fällen. Sie sind bei Schiebern im Einsatz und somit lokalisierbar. Flanschverbindungen haben eine Lebensdauer von rund 40 Jahren und werden somit laufend ersetzt.
Die restlichen rund 120 km oder 10% sind Gussleitungen. Bei diesen ist die Wasserstofftauglichkeit eingeschränkt. Die Gussleitungen weisen jedoch im Vergleich zu den übrigen Materialtypen eine kürzere Lebensdauer auf und sind von älterem Baujahr. Zudem befinden sie sich oft in Gebieten, die aufgrund der Transformation im Wärmesektor mit Fernwärme erschlossen werden. Daher werden die Gussleitungen bis im Jahr 2035 grösstenteils stillgelegt oder erneuert.
Die ordentliche Erneuerung des Gasnetzes hilft, dieses H2-ready zu machen. Im Rahmen der langfristigen Netzplanung haben sich Energie 360° und EZT mit den anstehenden notwendigen Leitungserneuerungen befasst. Es wird erwartet, dass bis 2035 gegen 20% des Leitungsbestandes erneuert und damit, falls nicht bereits gegeben, wasserstofftauglich werden.
Wie bereits erwähnt, weist Wasserstoff im Vergleich zu Methan eine geringere Energiedichte auf. Gleichzeitig besitzt H2 in den Leitungen infolge der geringeren Molekülgrösse eine höhere Fliessgeschwindigkeit. Die beiden gegenläufigen Effekte ergeben, dass bei gleichem Druck eine Leitung mit Wasserstoff rund 80% der Energie von Methan transportieren kann. Vor diesem Hintergrund gilt es zu klären, ob die bestehenden Leitungen ausreichen, um die künftige Versorgungssicherheit bei 100% Wasserstoff zu gewährleisten.
Energie 360° hat im Rahmen ihrer Netzstrategie den langfristigen Gasabsatz in ihrem Netz und demjenigen von EZT modelliert. Infolge des ökologischen Wandels und des veränderten Gesetzesrahmens (beispielsweise Energiegesetz Kanton Zürich) wird künftig deutlich weniger Gas im traditionellen Wärmemarkt benötigt. Durch den Ausbau von Fernwärme nimmt hingegen der Gaseinsatz zur Spitzendeckung und als Back-up zu. Ebenfalls steigen wird zur Gewährleistung der Stromversorgung im Winter der Gasbedarf zur Elektrizitätsproduktion (zum Beispiel Wärmekraftkopplung). In etwa unverändert dürfte die Nachfrage für den industriellen Einsatz bleiben.
Im Netzgebiet von EZT wird infolgedessen ein erheblicher Absatzrückgang erwartet, dies bei gegenüber heute praktisch unverändertem Transportnetz. Das Netz von EZT wird deshalb 2035 auch bei 100% Wasserstoff ausreichende Kapazitäten aufweisen.
Bei Energie 360° werden Verteilnetze infolge der schwindenden Nachfrage oder gesetzlichen Vorgaben stillgelegt. Massgebend für die Versorgungskapazität bei 100% Wasserstoff ist der erwartete Gasbedarf in den Netzgebieten ohne potenzielle Stilllegung. Auch in diesen Gebieten ist der Rückgang des Gasverbrauchs bis 2035 höher als der Rückgang des Energievolumens bei einer Umstellung auf Wasserstoff. Strangscharfe Beurteilungen, etwa beim Anschluss eines grossen industriellen Abnehmers oder einer Fernwärmezentrale, sind im Einzelfall vorzunehmen und gegebenenfalls Netzverstärkungen durchzuführen.
Als nächste Schritte werden die Abklärungen vertieft und erweitert – insbesondere in Bezug auf Netzanlagen wie Druckregel-Messstationen – sowie Erfahrungen mit Pilotprojekten gesammelt. Dabei wird – wo nötig – die Beschaffungs- und Einkaufsstrategie überarbeitet.
Die Leitungen, die neu gebaut oder erneuert werden, sind bereits 100% H2-tauglich. Viele Netzabschnitte mit Mängeln bezüglich Wasserstofftauglichkeit sind älteren Datums und werden ersetzt oder stillgelegt werden. Energie 360° und EZT werden daher in bedeutendem Ausmass die regulären Erneuerungszyklen nutzen können, um nicht H2-kompatible Betriebsmittel zu ersetzen.
Es zeichnet sich ab, dass leitungsgebundene, gasförmige Energieträger in einer CO2-neutralen Energieversorgung von Bedeutung bleiben und Wasserstoff langfristig eine wichtige Rolle spielen wird. EZT und Energie 360° streben deshalb an, die H2-Kompatibilität ihrer Gasleitungen und -anlagen bis 2035 vollumfänglich zu gewährleisten. Damit erhalten sie sich unter anderem Flexibilitäten für den künftigen Einsatz ihrer Gasnetze.
Die ersten Abklärungen haben ergeben, dass die heute neu gebauten Gasleitungen fast durchgängig wasserstofftauglich sind. Bei den bestehenden Stahl- und PE-Leitungen weist das Material in der aktuellen Druckstufe eine H2-Toleranz von 100% auf, es existieren jedoch teils Schweissnähte und lösbare Verbindungen, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Die noch bestehenden, nicht wasserstofftauglich Gussleitungen werden kontinuierlich ersetzt oder stillgelegt.
Energie 360° sieht sich somit auf gutem Weg, bis 2035 eine 100% wasserstoffkompatible Netzinfrastruktur erreichen zu können.
[1] Europäische Kommission (2019): Der europäische Grüne Deal – Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den europäischen Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 11.12.2019, COM/2019/640
[2] BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (2020): Roadmap Gas – Dekarbonisierung, Versorgungssicherheit und Flexibilität mit klimaneutralen Gasen
[3] van Rossum, R. et al. (2022): European Hydrogen Backbone – A European Hydrogen Infrastructure Vision covering 28 countries
[4] Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit vom 30. September 2022
[5] Motion 20.4406: GrĂĽne Wasserstoffstrategie fĂĽr die Schweiz
[6] DBI Gas- und Umwelttechnik GmbH (2019): Kompendium Wasserstoff in Gasverteilnetzen
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