Um den Boom des Stadtgases im Übergang zum 20. Jahrhunderts zu verstehen, genügt ein Blick in die Küchen und Bäder der damaligen Zeit: Wärme wurde vor allem mittels Kohle erzeugt, auf dem Land häufig auch mit Holz. Die Brennstoffbeschaffung und die Beschickung der Herde und Öfen war aufwändig, an eine bedarfsgerechte Regulierung
der Geräte war nicht zu denken. Der Durchlauferhitzer über der Badewanne mit seiner Sparflamme – quasi ein Stand-by-Betrieb – war ein Quantensprung in der Energieversorgung. Und ein Symbol des Komforts und der Sicherheit! Denn die Kohleöfen waren aufgrund der Rückschlaggefahr im Abgasstrom ziemlich gefährlich.
1826, also 17 Jahre bevor Gas in der Schweiz produziert wird, meldet James Sharp aus dem britischen Northampton seinen Gasherd zum Patent an. In der Schweiz finden Gasherde im 19. Und 20. Jahrhundert eine enorme Verbreitung. Robert Wilhelm Bunsen erfindet 1855 die erste Gasheizung – selbstverständlich nach dem Prinzip des Bunsenbrenners. Bis zur Zentralheizung sollte es noch fast 70 Jahre dauern: 1924 entwickelt der deutsche Hersteller Vaillant den ersten gasbeschickten Zentralheizungskessel.
Das Gaszeitalter beginnt mit der Nutzung von Gas aus Kohle zur Erzeugung von Licht, Warmwasser und Wärme zum Kochen. Die erste Gasleuchte steht in der Londoner Pall Mall, 1807, zwanzig Jahre später kommt der erste Gasherd. Auch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitet sich der mit Gas alimentierte Durchlauferhitzer zur Wassererwärmung.
Toasten und kĂĽhlen mit Stadtgas
Nicht nur Kochherde, auch Toaster, Boiler und Leuchten nutzen Stadtgas. Kühlschränke erzeugen nach dem Absorptionsprinzip Kälte aus Stadtgas, sogar eine Radiostation geht mit Hilfe von Gas auf Sendung. Das breite Anwendungsspektrum bestätigt der Industrie, dem Gewerbe und vielen Bewohnern: Gas ist ein universeller Energieträger – und leitungsgebunden.
Die Kohlepreise schwanken, zeitweise sehr stark. In den Kriegsjahren 1914/1918 steigert sich der Preis um den Faktor 4. Streiks in englischen Bergwerken in der Zwischenkriegszeit verursachen ähnliche Effekte. Für die Gaswerke bedeutet diese Volatilität eine enorme Herausforderung. Denn Preissteigerungen lassen sich nur eingeschränkt auf die Gaskunden übertragen.
Â
Symbole des neuen Zeitalters
Die Stadtwerke produzieren ihr Stadtgas in Entgasungsöfen, in denen Steinkohle – ohne Luftzufuhr – über mehrere Stunden glüht. Das dabei entstehende Gas strömt
über Leitungen in die Filterung und Reinigung und schliesslich in den Gasspeicher. Diese Niederdruckbehälter fassen Zehntausende von Kubikmetern Stadtgas und
bleiben der Bevölkerung als Landmark in Erinnerung. Neben Stadtgas fällt Koks, Teer und Schwefel an. In den Gründerjahren Anfang des 20. Jahrhunderts produzieren
rund hundert Stadtwerke Gas. 1955 nutzen 600 000 Kunden Stadtgas, überwiegend private Haushalte zum Kochen und für die Wassererwärmung.
Ab den 1950er Jahren kommen mangels Verfügbarkeit von kostengünstiger Kohle andere Energieträger zum Einsatz – Leichtbenzin, Erdöl, Butan, Propan etc. Ab 1969 wird die Gasversorgung sukzessive auf Erdgas umgestellt. Das Gas stammt überwiegend aus den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Mit dem Bau der Transitleitung durch
die Schweiz – vom Baselbiet bis über den Griespass – im Jahre 1974 begann die Verbreitung des umweltfreundlichen Treib- und Brennstoffes Erdgas. Bis der letzte Entgasungsofen stillgelegt wird, dauert es noch Jahrzehnte. 1843 nimmt die Stadt Bern ihr Gaswerk in Betrieb. Es ist in der Schweiz die erste Produktionsstätte für Stadtgas. Das heutige Kulturzentrum «Gaskessel» erinnert an dieses Werk. Das Basler Werk folgt 1852, 44 Jahre später jenes in Lausanne (heute Service industriel de Lausanne). Erst 1897 kommt in Schlieren das «Zürcher Gaswerk» in Betrieb. Insgesamt entstehen hundert Gaswerk in der Schweiz. Schon 1860 meldet Etienne Lenoir den weltweit ersten Gasmotor zum Patent an. Das bedeutet «Kraft aus Gas», doch bis zur lückenlosen «Mobilität mit Gas» gehen noch Jahrzehnte ins Land. 1935 kommt die erste Gastankstelle für Auto in Betrieb.
«AQUA & GAS» gibt es auch als E-Paper. Abonnenten, SVGW- und/oder VSA-Mitglieder haben Zugang zu allen Ausgaben von A&G.
Den «Wasserspiegel» gibt es auch als E-Paper. Im SVGW-Shop sind sämtliche bisher erschienenen Ausgaben frei zugänglich.
Kommentare (0)