Die Trinkwasserversorgung steht vor gewaltigen Herausforderungen. Dazu zählen neben der Überalterung der Leitungsnetze, Betriebsingenieure und Netzmeister auch die Folgen des Klimawandels, der sich auf die zeitliche und örtliche Verfügbarkeit von Trinkwasser und damit auf die Versorgungssicherheit auswirkt. Flexible Lösungen sowohl in der Planung als auch im Betrieb von Trinkwasserversorgungssystemen, die zur Erhöhung der Resilienz und des Automatisierungsgrades beitragen, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Welchen Beitrag die Digitalisierung dazu leisten kann, wird derzeit vielfältig diskutiert. Die heute zur Verfügung stehende Sensorik, schnelle und flächendeckende Datenanbindung sowie Softwaresysteme zur Simulation und Optimierung von Prozessen bieten grundsätzlich die Voraussetzungen für die Implementierung innovativer, echtzeitfähiger Managementsysteme zur Überwachung und Steuerung der Anlagen.
Eng verbunden mit dem Thema Digitalisierung sind die Begriffe Industrie 4.0 oder hier Wasser 4.0, die für die Vernetzung von Anlagen, Sensoren, Diensten und Prozessen stehen. Diese Vernetzung findet im Internet der Dinge (IoT) statt und mündet in die Entwicklung eines sogenannten Cyber-Physikalischen Systems (CPS). Das CPS setzt sich aus den Komponenten der realen Welt sowie deren virtuellen Kopien zusammen. Eine solche Kopie wird häufig als Digitaler Zwilling (DZ) bezeichnet. Das Konzept des DZ stammt aus dem Product Lifecycle Management und wurde erstmalig im Jahr 2002 von Michael Grieves [1] vorgestellt. In den folgenden Jahren wurden unterschiedliche Termini verwendet, bis sich schliesslich etwa zehn Jahre später die Bezeichnung DZ durchsetzte.
Der DZ ist das virtuelle Abbild eines Produktes oder einer Anlage und der zugehörigen Prozesse. Das Abbild besitzt alle relevanten Eigenschaften und Informationen der Realität. Dazu ist es erforderlich, dass mit der Realität ein ständiger Austausch von Daten und Informationen, die z. B. von Sensoren erhoben oder Algorithmen berechnet werden, stattfindet. Mithilfe des DZ werden Planungs- und Fertigungsprozesse beschleunigt sowie die Produktüberwachung und -wartung unterstützt. Der DZ begleitet sein reales Abbild über dessen gesamte Lebensspanne und deckt dabei die gesamte Wertschöpfungskette ab. So vielfältig wie die Anwendungsfelder sind auch die unterschiedlichen Interpretationen und Anpassungen. Einigkeit über die genaue Definition besteht bis heute nicht [2].
Ein Konzept für den DZ eines Trinkwasserversorgungssystems muss strenggenommen eine Vielzahl datenbasierter und physikalischer Modelle vereinen. Dazu zählen unter anderem CFD-Modelle (Computational Fluid Dynamics) von Pumpen und Turbinen, Alterungsmodelle aus dem Assetmanagement, 3D-Modelle von Speicherbehältern sowie Netzmodelle. In der Trinkwasserversorgung sind DZ für einzelne Komponenten, wie z. B. Pumpen, oder Gebäude wie Speicherbehälter, Pumpstationen (BIM: Building Information Modeling) bereits verfügbar. Während der Einsatz von BIM bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen in der Schweiz ab 2021 [2] und in Deutschland ab 2020 [3] verbindlich vorgeschrieben ist, existiert für die hydraulische Modellierung des Trinkwasserversorgungssystems als Ganzes kein vergleichbarer Standard.
Trotz der Verfügbarkeit weit entwickelter Geoinformationssysteme (GIS) ist die Dokumentation in vielen Fällen mangelhaft. Ein gut gepflegter GIS-Datenbestand ist aber die Grundvoraussetzung für die Erstellung eines digitalen Simulationsmodells, das den Anforderungen eines DZ genügt und das hydraulische Verhalten des gesamten realen Versorgungssystems mit ausreichender Genauigkeit widerspiegelt. Die Zuverlässigkeit von Aussagen, die mithilfe eines Modells generiert werden, steht in direktem Zusammenhang mit der Qualität der Ausgangsdaten.
Eine weitere Schwierigkeit stellen in der Praxis die fehlenden oder mangelhaften Möglichkeiten zur Modellaktualisierung dar. Oft werden hydraulische Simulationsmodelle für die Beantwortung einer bestimmten Fragestellung erarbeitet. Datengrundlage ist der aktuelle Stand im GIS. Im Laufe der Zeit entfernt sich das hydraulische Simulationsmodell, dessen Datenbasis meist nicht im gleichen Umfang fortgeschrieben wird wie das GIS, vom realen System. Modellupdates erweisen sich als aufwendig und werden daher nur in grossen Zeitabständen durchgeführt.
Die beiden Beispiele stehen stellvertretend für die Herausforderungen beim Übergang von isolierten Systemen und Softwarelösungen zum CPS. Im vorliegenden Beitrag werden die aus Sicht der Hydrauliksimulation wesentlichen Eigenschaften des DZ eines Trinkwasserversorgungsnetztes näher beleuchtet und Voraussetzungen für die Erstellung eines solchen diskutiert. Unterschiede zu konventionellen Rohrnetzberechnungsmodellen bestehen im Wesentlichen im definierten und automatisierten Austausch von Daten mit anderen Systemen. Wie sich zeigen wird, gibt es nicht die Standardlösung für die Implementierung eines DZ. Vielmehr sind individuelle Rahmenbedingungen und Fragestellungen zu berücksichtigen und in einer Kosten-Nutzen-Analyse abzuwägen.
Der hydraulische DZ besteht aus einem skalierbaren, GIS-integrierten, Leitsystem-integrierten Netzsimulationsmodell, das als virtuelle Kopie das hydraulische Verhalten des gesamten realen Versorgungssystems abbildet. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob das reale System bereits existiert oder neu zu errichten ist. Als wesentlicher Unterschied zu traditionellen Rohrnetzmodellen befindet sich der DZ in stetigem Austausch mit dem GIS und dem Prozessleitsystem, und damit indirekt mit dem realen System.
FĂĽr den erweiterten Einsatz im Sinne eines kontinuierlichen Netzmonitorings verfĂĽgt der DZ ĂĽber ein umfangreiches System von Leistungskennzahlen (KPI, Key Performance Indicators) sowie angepassten Sichten auf die Netztopologie [6] und den Prozess, die eine rasche und umfassende Beurteilung des aktuellen Systemzustandes zulassen.
Im Folgenden werden die beiden grundlegenden Arbeitsschritte Modellerstellung und Modellaktualisierung näher beleuchtet. Diese sind auch wesentlicher Bestandteil der Arbeit mit konventionellen Rohrnetzmodellen, ihnen kommt aber im Zusammenhang mit dem DZ eine besondere Bedeutung zu.
Ein hydraulisches Simulationsmodell erstreckt sich wie das reale System über weite Teile des gesamten Versorgungsgebiets und deckt dabei neben dem Leitungssystem auch Anlagen wie Pumpstationen, Speicherbehälter oder Regelstationen ab. Dementsprechend umfangreich ist die Menge an Daten, die für die Hydrauliksimulation benötigt werden.
Die Implementierung eines DZ beginnt mit der Erstellung eines hydraulischen Simulationsmodells oder setzt auf bereits bestehende Modelle auf. Dieser erste Schritt unterscheidet sich nur wenig von der Erstellung herkömmlicher Rohrnetzmodelle. Die geografisch-physikalischen Daten des Leitungsnetzes werden aus Bestandsdaten, in der Regel aus einem GIS-System, übernommen und zu einem topologischen Modell zusammengeführt. Hinzu kommen Information über betriebsführende Stationen wie Behälteranlagen, Wasserwerke, Pumpstationen, Regelstationen. Die Last wird basierend auf der Jahresverbrauchsabrechnung modelliert. Um eine ausreichende Übereinstimmung des Modells mit dem realen System zu gewährleisten, werden Sensordaten und Daten aus dem Prozessleitsystem zur Kalibrierung der Modellparameter verwendet. Oft mangelt es an einer ausreichenden Abdeckung des Leitungsnetzes mit Sensoren, sodass weitere Kalibrierungsdaten im Zuge einer speziellen Messkampagne erhoben werden. Am Ende dieses Arbeitsschrittes steht ein kalibriertes Simulationsmodell, das den momentanen Zustand des Systems in einer für die Fragestellung ausreichenden Genauigkeit wiedergibt.
Bei dem so erstellten Simulationsmodell handelt es sich um ein sognanntes parametrisches mathematisches Modell [7]. Zu den Modellparametern zählen im hydraulischen Simulationsmodell beispielsweise die physikalischen Eigenschaften der Leitungen (Material, Durchmesser, Rauheit, …) oder die Randbedingungen für Druck und Entnahmen (Last) sowie Schieberstellungen. Diese Parameter sind steten Änderungen unterworfen. Je nach Ursache (Verschleiss, Änderung von Schieberstellungen, Steuerbefehle aus lokaler Automatisierung oder Leitsystem) finden die Änderungen in stark unterschiedlichen Zeitskalen statt. Daraus resultieren folgende Schwierigkeiten für den DZ:
– Änderungen müssen erkannt werden.
– Änderungen müssen an den DZ kommuniziert werden.
Zur weiteren Betrachtung werden die Parameter in drei Klassen unterteilt. Bei der ersten Klasse handelt es sich um physikalische Eigenschaften, die sich langsam ĂĽber relativ lange Zeiträume ändern. Dazu zählen beispielsweise der Materialverschleiss und die Bildung von Inkrustationen/Ablagerungen in Rohrleitungen. Die zweite Gruppe beinhaltet Manipulationen am bestehenden Leitungsnetz, die im täglichen Betrieb manuell zu Revisionszecken o. Ă„. durchgefĂĽhrt werden (Schliessen und Ă–ffnen von Schiebern). Die dritte Gruppe vereint Steuerentscheidungen, die ĂĽber das Prozessleitsystem oder lokale Automatisierung angestossen werden (Aktor-Befehle wie An-/Abfahren von Pumpen, Ă„ndern des Ă–ffnungsgrades von ferngesteuerten Schiebern) und LastÂänderungen (Netzabnahme).
Während relevante Zeitspannen fĂĽr die erste Gruppe eher in Jahren gemessen werden, finden die Ă„nderungen in Gruppe zwei oft täglich statt. FĂĽr realistische betriebsnahe Simulationen sind in Gruppe drei oft minĂĽtliche bzw. sogar sekĂĽndliche (Stichwort MPC, Model Predictive Control) Aktualisierungen der ModellÂparameter erforderlich.
Für die praktische Umsetzung des DZ stellt die dritte Gruppe – mit Ausnahme der Last – das geringste Problem dar. Für Steuergrössen und Messwerte aus dem Leitsystem sowie aus verteilten Sensoren stehen eine leistungsfähige Infrastruktur und diverse Übertragungsmöglichkeiten zur Verfügung. Über standardisierte Schnittstellen wie OPC (Open Platform Communications) können die Informationen unter Beachtung der Anforderungen an die IT-Sicherheit in Echtzeit auch Drittsystemen wie der Hydrauliksimulation zur Verfügung gestellt werden. Das Ergebnis ist ein prozessbegleitendes Simulationsmodell (PBS), das den aktuellen hydraulischen Zustand des gesamten Versorgungssystems auf Basis der übergebenen Randbedingungen und Steuergrössen wiedergibt. Das PBS ist das Herzstück des DZ.
Eine Quelle für Abweichungen vom realen System stellen fehlerhafte Annahmen über die aktuelle Netzabnahme dar. Technologien für die kontinuierliche Online-Übertragung aktueller Verbrauchswerte sind zwar verfügbar (Smart Metering), werden aber bislang nicht im erforderlichen Umfang eingesetzt. Die Lastannahmen eines PBS beruhen daher meist auf Basisverbräuchen (Verbrauchsabrechnung) und Online-Messungen von Zonenverbräuchen, aus denen die aktuell anzuwendenden individuellen Skalierungsfaktoren berechnet werden.
Weitere Unsicherheiten resultieren aus Betriebseinstellungen, die manuell vom Betriebspersonal durchgeführt und nicht strikt im Leitsystem nachgeführt werden. Als wichtigstes Beispiel seien die Stellungen von Trennschiebern genannt. Falsche Annahmen über Schieberstellungen können zu grossen Abweichungen im hydraulischen Verhalten des DZ im Vergleich zum realen System führen und müssen vermieden werden. Da es sich bei Versorgungsnetzen um dynamische Systeme handelt, die neben Verschleiss auch ständigen Rehabilitationsmassnahmen, Rückbau und Neuanschlüssen unterworfen sind, müssen auch die physikalischen Parameter fortlaufend aktualisiert werden.
Der DZ unterscheidet sich in puncto Modellaktualisierung wesentlich von der traditionellen Rohrnetzberechnung. Die Verbindung zum realen System für Daten der ersten und zweiten Gruppe, die in der Regel über ein GIS-System erfolgt, darf nicht in einer einmaligen «Ausspielung» bestehen, sondern muss über die Lebensspanne des DZ aufrechterhalten werden, sodass Änderungen im GIS-Datenbestand fortlaufend zur Aktualisierung des hydraulischen Simulationsmodells übernommen werden können. Die datentechnische Integration von Hydrauliksoftware und GIS bietet erhebliche Vorteile: Durch Einsatz eines zentralen Dokumentationssystems (GIS) werden redundante Datenhaltungen vermieden. Die Simulation profitiert von bereits bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten des GIS (mobile Apps für Instandhaltung, Schieberstellungen, Integration der Verbrauchsabrechnung usw.). Umgekehrt werden die GIS-Daten durch den hydraulisch widerspruchsfreien Modellkontext fortlaufend verifiziert. Dies trägt erheblich zur Vollständigkeit und Steigerung der Datenqualität bei. Der DZ schafft also durch Integration Qualitäts-Synergien zwischen vormals isoliert arbeitenden Softwaresystemen – bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung.
Bei den Versorgungsnetzen der Trinkwasserversorgung handelt es sich um weitverbreitete, komplexe Systeme der technischen Infrastruktur, die über Jahrzehnte gewachsen sind und für die häufig eine nur unvollständige Datenbasis existiert. Das System umfasst dabei viele Akteure (Abnehmer, Betrieb, Instandhaltung, Leckagen), deren Verhalten teilweise unbekannt ist und nicht exakt abgebildet werden kann. Eine Online-Datenanbindung zwischen virtueller und realer Welt besteht nur für einen Bruchteil der Komponenten, wodurch die Möglichkeiten zur autarken Selbstaktualisierung stark eingeschränkt sind. Dies betrifft insbesondere das Leitungsnetz jenseits der Stationen, in dem Sensorik bisher keine oder nur eine stark untergeordnete Rolle spielt.
In der Praxis stellt der Mangel an standardisierten Datenmodellen und Schnittstellen zur Integration von GIS und Simulation ein weiteres, bedeutendes Hindernis fĂĽr die EinfĂĽhrung des DZ dar. In einem aktuellen F&E-Vorhaben wird daher ein Konzept fĂĽr die Integration von GIS, Simulation und Sensordaten erarbeitet und an mehreren Trinkwasserversorgungssystemen im sĂĽddeutschen Raum erprobt [8].
Als wichtige Konsequenz der genannten Einschränkungen sollte der Nutzen, der mithilfe des DZ erzielt werden soll, als wesentliches Kriterium für die Anforderungen an Qualität und Aktualität der Daten herangezogen werden. Entscheidend sind nicht die Detailtiefe und möglichst genaue und vollständige Abbildung der Wirklichkeit im DZ. Vielmehr sollte der DZ die zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe nötige Detailtiefe besitzen. Mangelnde Datenqualität stellt kein Ausschlusskriterium dar. Das reale System kann in der Zukunft weiter ausgebaut werden, wodurch die Einsatzmöglichkeiten des DZ kontinuierlich erweitert werden.
Durch die Koexistenz des DZ mit dem realen System können sämtliche komplexe hydraulische Fragestellungen wesentlich effizienter und zielgerichteter bearbeitet werden. Im Gegensatz zur herkömmlichen Arbeitsweise, bei der in einem zeitaufwendigen Prozess erst die Grundlagen durch die Erstellung eines fĂĽr die Fragestellung geeigneten Modells oder durch ModellÂupdates geschaffen werden mĂĽssen, steht das erforderliche Modell als Zwilling immer zur VerfĂĽgung. Alle aufwendigen Untersuchungen können nun am DZ anstelle des realen Systems durchgefĂĽhrt werden. DarĂĽber hinaus unterstĂĽtzt der DZ den täglichen Betrieb durch erweitertes Netzmonitoring und Antworten auf betriebliche Fragestellungen.
Mithilfe des DZ lassen sich prozessbegleitende Simulationen eines gesamten komplexen Versorgungsnetzes realisieren. Durch die automatische Anbindung von Prozessdaten wird die Simulation im Minuten- bzw. sogar Sekundentakt aktualisiert und spiegelt so den tatsächlichen aktuellen Betriebszustand des realen Netzes wider. Je nach Fragestellungen können die Simulationen auch auf Basis transienter Druckstossberechnungen erfolgen. Damit werden kritische Fahrweisen sichtbar. Alternative, schonendere Fahrweisen tragen zu einer längeren Lebensdauer der Komponenten und einem sichereren Betrieb bei. Während Sensormessungen nur für ausgewählte Standorte des Systems zur Verfügung stehen, erstreckt sich die prozessbegleitende Simulation über das gesamte Versorgungsgebiet. Die Berechnungsergebnisse basieren auf realen Sensordaten als Randbedingungen und können als virtuelle Sensoren betrachtet werden. Das Modell ersetzt zusätzliche Messungen und trägt somit zur Kostenreduzierung bei.
Im laufenden Betrieb ist im Zuge von Rehabilitationsmassnahmen oder als Reaktion auf Havariefälle (z.B. Rohrbruch) häufig eine rasche Entscheidung des Betriebspersonals gefordert. Unter Zuhilfenahme des DZ können mehrere alternative Fahrweisen auf ihre Zulässigkeit und Effizienz hin untersucht werden (what-if). Herkömmliche Simulationsmodelle sind für den operativen Einsatz nur bedingt oder überhaupt nicht geeignet, da sie einen bestimmten Betriebszustand, z. B. fiktiven Planungslastfall, adressieren, der zu stark vom aktuellen Zustand abweicht. Ausserdem ist die Bedienung für den betrieblichen Einsatz meist zu komplex. Der DZ verbirgt die Komplexität durch neue, für das Betriebspersonal zugeschnittene, einfach zu bedienende Benutzeroberflächen. Dabei handelt es sich aber grundsätzlich um «denselben» DZ, den auch das Asset Engineering für die Reha-Strategie oder die stationäre Planung für den Netzausbau verwendet.
Mithilfe des DZ lassen sich aus historischen Betriebsdaten der gesamte Systemzustand zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit rekonstruieren (reconstruction) und Rückschlüsse auf Ursachen von abnormalen Betriebsweisen ziehen. In Verbindung mit Prognosemodellen, z. B. für die zukünftige Entwicklung der Systemlast oder anderer Randbedingungen (Temperatur, Energiepreis usw.), können Vorausberechnungen der Zukunft (look-ahead) durchgeführt und Betriebsweisen entsprechend angepasst und optimiert werden.
Was-wäre-wenn-Szenarien sowie die Kombination mit Prognosemodellen bilden die Grundlage für betriebliche Optimierungen. Die meisten Wasserversorgungssysteme werden nach einer jahrelang gewachsenen Routine gefahren. Externe Treiber wie der Klimawandel mit anhaltenden Trockenperioden, alternde Infrastrukturen und der damit verbundene Kostendruck sowie stets steigende Anforderungen an die Trinkwasserqualität erfordern neue Konzepte und Betriebsweisen, die nicht mehr aus Routineerfahrungen ableitbar sind. Daraus ergibt sich der Bedarf an neuen, dynamischeren und flexibleren Fahrweisen. Mithilfe des DZ können solche Fahrweisen ohne Gefahr für das reale System erprobt oder in Kombination mit Methoden der mathematischen Optimierung und künstlichen Intelligenz für die Ermittlung der «besten» (Stichwort Pareto-Front von Mehrfachzielsetzungen) Betriebsweise unter Berücksichtigung identifizierter Restriktionen getestet und fortgeschrieben werden. Die «Subjektivierung» (d. h. welche Lösung aus «gleich guten» gewählt wird) obliegt weiter den Entscheidern. Zum Beispiel kann Performanz vor Kosten gewertet werden oder Versorgungszuverlässigkeit vor Kosten oder die beste Ausgewogenheit aller drei Aspekte das Ziel sein.
Der fortlaufende Abgleich von Messungen am realen System mit den Berechnungsergebnissen des DZ ermöglicht ausserdem die Implementierung unterschiedlicher Detektionsverfahren. So lassen sich beispielsweise Druckmessungen in Kombination mit Mengenmessungen zur Detektion und Lokalisierung von Leckagen und Rohrbrüchen einsetzen. Vom Normalfall abweichende Qualitätsmessungen liefern Hinweise auf Verunreinigungen und unterstützen die Lokalisierung des Kontaminationsursprungs (nach Ort und Zeit). In Ergänzung zu deterministischen Simulationen werden für die Lösung solcher sogenannten inversen Probleme zusätzliche höhere Funktionen benötigt, auf die hier nicht näher eingegangen wird.
Parallel zur deterministischen PBS bietet sich die Integration eines datengetriebenen Modells an (z. B. Künstliches Neuronales Netz, KNN). Der Vorteil datengetriebener Modelle besteht in den im Vergleich zur PBS sehr kurzen Reaktionszeiten. Beide Instanzen könnten dabei stark voneinander profitieren. Das PBS kann z. B. zum Training eines KNN die unterschiedlichsten Betriebszustände generieren, die im realen System bislang nicht beobachtet wurden und nur in Ausnahmesituationen und Havariefällen auftreten. Umgekehrt kann das neuronale Netz durch fortschreitendes Lernen zur Verbesserung der Modellparameter im PBS dienen.
Nicht nur betriebliche Aufgaben profitieren von der Existenz des DZ, auch Problemstellungen aus dem Bereich Netzplanung und strategische Weiterentwicklung lassen sich auf Basis des DZ wesentlich effizienter bearbeiten. Massnahmen zum Netzumbau, -ausbau oder -rückbau bis hin zu Zielnetzplanungen können auf Basis des DZ entwickelt werden. Weitere Fragestellungen betreffen die Verbesserung der Resilienz und Versorgungssicherheit sowie qualitative Aspekte (Wasseralter und -temperatur).
In diesem Beitrag wurde ein Konzept für einen DZ für Trinkwasserversorgungsnetze als GIS-integriertes und Leitsystem-integriertes hydraulisches Simulationsmodell vorgestellt. Dabei gibt es keinen Standard für die Implementierung des DZ. So unterschiedlich wie die Versorgungssysteme sind auch deren digitale Abbilder. Die jeweilige Ausgestaltung sollte immer anwendungsgetrieben sein und auf den grösstmöglichen Nutzen abzielen.
Hindernisse bei der Umsetzung bestehen bislang hauptsächlich in der Datenqualität und dem Fehlen von standardisierten Vorgaben für die Dokumentation der Netzdaten und entsprechender Schnittstellen. Wie gezeigt wurde, stellt vor allem die Integration des PBS mit dem GIS eine wesentliche Hürde bei der Realisierung des DZ dar. Durch die Definition eines einheitlichen Datenmodells und zugehöriger Schnittstellen sowie klar definierter Prozesse zur Netzdokumentation könnten diese Hürden jedoch ohne weitere technologische Entwicklungen genommen werden. Des Weiteren könnte der Einsatz von Smart-Metern mit kontinuierlicher Datenübertragung zu einer massgeblichen Verbesserung der Modellgüte beitragen.
Bis dato erfordert der Betrieb eines hydraulischen DZ noch den Einsatz von Spezialsoftware, deren Bedienung nur durch geschultes Fachpersonal möglich ist. Perspektivisch wird sich dies jedoch ändern. Die Informationen, die der DZ liefert, stehen dann überall zur Verfügung. Cloudbasierte Technologien werden den Zugriff auf Simulationsrechnungen auch via mobile Endgeräte ermöglichen. Für den erfolgreichen, unternehmensweiten Einsatz muss sich die Oberflächengestaltung derart weiterentwickeln, dass auch weniger IT-geschultes Betriebspersonal einfache Berechnungen anstossen und die Ergebnisse interpretieren kann. Eine herausragende Rolle spielen dabei KPI (Key Performance Parameters), die auf den ersten Blick einen möglichst umfassenden Überblick über den aktuellen Systemzustand geben.
Schlussendlich führt bei der Umsetzung von Wasser 4.0 kein Weg am DZ vorbei. Dabei darf nicht vergessen werden: Je weiter die Vernetzung zwischen physikalischem und digitalem System voranschreitet, umso wichtiger ist es, die Vulnerabilität des Gesamtsystems zu betrachten. Der DZ dient einerseits dem Schutz des physikalischen Teils durch Monitoring, Mitigation, Schulung des Betriebspersonals, optimierte Wartung usw. Andererseits jedoch nimmt ein stärker integrierter DZ auch Einfluss auf den Betrieb des realen Systems (z. B. durch optimierte Online-Fahrweisen, Aktor- Befehle usw.), sodass im Falle des temporären Verlustes (z. B. durch Stromausfall oder Cyberattacke) des DZ auch das reale System betroffen wäre.
[1] Grieves, M. (2014): Digital twin: Manufacturing excellence through virtual factory replication, White paper, Florida Institute of Technology
[2] 3. Schweizer BIM Kongress (2019): BIM Roadmap, ĂĽber: https://bauen-digital.ch/assets/Downloads/de/BIM-Roadmap.pdf (abgerufen am 10.12.2019)
[3] Bundesministerium fĂĽr Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI): Stufenplan Digitales Planen und Bauen. Berlin: ĂĽber: https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/DG/stufenplan-digitales-bauen.pdf (abgerufen am 10.12.2019)
[4] Tomko, M.; Winter, S. (2019): Beyond digital twins – A commentary. Environment and Planning B: Urban Analytics and City Science 46(2):
395–399
[5] Deuter, A.; Pethig, F. (2019): The Digital Twin Theory. Industrie 4.0 Management 2019: 27–30. 10.30844/I40M_19-1_S27-30
[6] Deuerlein, J. W. (2008): Decomposition model of a general water supply network graph. ASCE Journal of Hydraulic Engineering 134: 822–832
[7] Deuerlein, J. et al. (2015): Parameterization of offline and online hydraulic simulation models. Procedia Engineering 119: 545–553
[8] Bernard, T. et al. (2019): Webbasierte Plattform zur Betriebsoptimierung von Wassersystemen.
DVGW energie/wasser-praxis. Jg. 70, Nr. 12: 43–45
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