Lassen Sie sich beim Lesen dieses Artikels nicht unterbrechen! Lesen Sie ihn weder zu schnell noch unter Zeitdruck, denn sonst bekommen Sie Stress! Unterbrechungen, Arbeiten mit hohem Tempo und Termindruck sind die drei häufigsten chronisch auftretenden Belastungsfaktoren bei den Schweizer Erwerbstätigen. Dies geht aus der vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz veröffentliche «Stressstudie 2010» hervor [1].
Als Berufskrankheit ist «Burnout» in der Schweiz bisher nicht anerkannt. Deshalt lancierte SP-Nationalrat Mathias Reynard die Initiative «Das Burnout als Berufskrankheit anerkennen». Am 3. Juni 2019 erschien zum Thema in der Aargauer Zeitung ein Artikel mit der provokativen Schlagzeile «Arbeitgeber sollen bei Burnout zahlen – bürgerliches Lager dagegen». Im Artikel steht beispielsweise: «Die Welt dreht sich schneller als früher, und das wirkt auch in die Arbeitswelt hinein. Immer mehr Arbeitnehmer geben an, dass sie mehr leisten müssen, als sie können. Im neuesten Job-Stress-Index sagen 27 Prozent der Befragten, dass die Belastung ein kritisches Ausmass erreicht habe.» Die Weltgesundheitsorganisation WHO habe das Syndrom in ihren Katalog aufgenommen, nicht als Krankheit, sondern als krankmachenden Faktor, ist weiter zu lesen. Vielleicht ist dies ein Schritt in die richtige Richtung. Aber warum wird dieses Thema so kontrovers diskutiert? In der Schweiz ist jeder Arbeitnehmer gegen Berufsunfälle und -krankheiten versichert. Damit Leistungen der Unfallversicherung in Anspruch genommen werden können, muss die Krankheit anerkannt und gelistet sein. Psychische Erkrankungen finden sich dort jedoch nicht. Oft wird eine Depression im Zusammenhang mit einem Burnout diagnostiziert, und damit übernimmt die Krankenversicherung den Fall. «Am Schluss bezahlt also die Krankenkasse – und damit die Allgemeinheit – für eine Krankheit, die vor allem mit dem Job zu tun hat», sagt SP-Nationalrätin Barbara Gysi [2].
«Zudem ist der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen der beruflichen Tätigkeit und einer Burnout-Erkrankung schwierig, denn Burnout ist eine Erkrankung, die in der Regel auf mehrere Faktoren zurückgeht; beispielsweise auch auf eine Kombination von Faktoren aus dem privaten und dem beruflichen Leben. Der berufliche Anteil der Krankheitsursache ist denn auch oft nur schwer zu ermitteln, weshalb sich hier die Zuständigkeit der Unfallversicherung eben nicht ergibt», sagt FDP-Nationalrätin Regine Sauter [3].
Stress, psychische Belastung und Beanspruchung, individuelle Disposition, Gefährdungsermittlung, Erfassung im Betrieb, Burnout, Depression sind nur einige der Schlagwörter und Begriffe, die nachfolgend näher beleuchtet und in den richtigen Zusammenhang gebracht werden. Zudem werden praxisnahe Hinweise für die Bedeutung und Anwendung im Betrieb geliefert.
Warum arbeiten wir? In erster Linie, um die existenzielle Grundlage für unser Leben zu schaffen. In einem der zahlreichen Leitfäden zum Thema «Psychische Belastungen» ist beispielsweise Folgendes zu lesen [4]: «Arbeit soll eine Quelle für Gesundheit im Sinne der Steigerung der Motivation und persönlicher Entwicklung sein. Arbeit fördert die Gesundheit, wenn sie grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt. Diese sind neben der materiellen Existenzsicherung das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Kompetenzentfaltung sowie Zugehörigkeit und Anerkennung.»
Stellen Sie sich ein Leben ganz ohne Belastung vor. Wären Sie glücklicher? Da der Begriff «Belastung» leider fast ausschliesslich negativ behaftet ist, wird im Folgenden genauer auf die Begriffe eingegangen und einige Zusammenhänge geklärt.
Technisch fokussierte Menschen konsultieren gerne die Normen. Demnach ist gemäss DIN EN ISO 10075-1 definiert: «Unter psychischen Belastungen versteht man die Gesamtheit aller Einflüsse, die von aussen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken.» In der Arbeitswelt setzen sich diese Einflüsse aus verschiedenen Faktoren zusammen [4]:
Â
Aus der Kombination ergibt sich die jeweilige arbeitsplatzbezogene gesamthafte psychische Belastung, die auf den Arbeitnehmer einwirkt. Da wir alle «nur Menschen» sind, verfügen wir über unterschiedliche persönliche Ressourcen, um mit unterschiedlichen Belastungen umgehen zu können. Davon hängt also ab, wie sich die individuelle psychische Beanspruchung für uns gestaltet, bezogen auf unsere individuellen Leistungsvoraussetzungen. Unter optimalen Bedingungen stimmen diese überein und es ergibt sich eine adäquate Anforderung. Als Beanspruchungsfolgen ergeben sich kurzfristig Herausforderung, Zufriedenheit und Aktivierung. Mittel- und langfristig führt dies zu Weiterentwicklung, Wohlbefinden, also psychosomatischer Gesundheit.
Unter ungünstigen Bedingungen stimmen die individuellen Leistungsvoraussetzungen und die psychische Beanspruchung nicht mehr überein. Als Folge entsteht Über- oder Unterforderung, die kurzfristig zu Stress, Monotonie, psychischer Sättigung, psychischer Ermüdung, Unzufriedenheit sowie Kopfschmerzen und Magenbeschwerden führt. Langfristige Folgen sind Depression und Burnout, also psychosomatische Erkrankungen, sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch (Fig. 1).
Wie sieht eine adäquate Anforderung in der Praxis aus? «Adäquat» ist kein fixer Wert, denn Anforderungen variieren über die Zeit genauso wie die persönliche Leistungsfähigkeit. Leichte Unterforderung kann vorübergehend entspannend wirken und leichte Überforderung anspornend und herausfordernd. Wie bei allen Dingen im Leben, liegt die adäquate Anforderung in der «goldenen Mitte».
Entspricht über einen gewissen Zeitraum betrachtet die Menge der Unterforderungen in etwa der Menge der Überforderungen, besteht ein Gleichgewicht wie bei einer Waage. Figur 2 veranschaulicht den Zusammenhang. Steigen qualitative und quantitative Anforderungen immer weiter an, kommt es zur Überforderung und die psychische Ermüdung nimmt in der Folge zu. Sinken dagegen die qualitativen und quantitativen Anforderungen stetig ab, kommt es zur Unterforderung und in der Konsequenz nimmt Langeweile und Monotonie zu. Befinden sich qualitative und quantitative Anforderungen im Gleichgewicht, führt das zum Optimum und man fühlt sich «fit» bzw. zufrieden und der Aufgabe langfristig gewachsen.
Arbeitsbedingungen können Belastungsfaktoren (Stressoren) einschliessen. Nachfolgend werden die Ergebnisse der «Stressstudie 2010» zusammengefasst dargestellt. Die drei häufigsten chronischen arbeitsbezogenen Belastungsfaktoren, mit denen Schweizer Erwerbstätige regelmässig konfrontiert sind – «Unterbrechungen», «Arbeiten mit hohem Tempo» und «Termindruck» (Fig. 3) – haben sich in wissenschaftlichen Studien als relevant für Befinden und Gesundheit herausgestellt [1]. Unter «chronisch» wird dabei «sehr häufig» oder «ziemlich häufig» auftretend verstanden.
Konnten Sie bis jetzt unterbrechungsfrei, ohne hohes Tempo und Termindruck den Beitrag lesen? Nein? Dann sollten Sie sich mit den weiteren Details in den folgenden Abschnitten beschäftigen oder umgehend für die nötigen Randbedingen sorgen, um dies tun zu können.
Rund die Hälfte der Arbeitnehmer und selbständigen Schweizer Erwerbstätigen geben an, bei ihrer Arbeit chronisch, (d. h. ziemlich häufig oder sehr häufig) durch eine unvorhergesehene weitere Aufgabe unterbrochen zu werden. Unterbrechungen stellen den am häufigsten berichteten Belastungsfaktor dar. Arbeitsunterbrechungen sind Belastungsfaktoren, welche die Aufgabenausführung behindern können – insbesondere dann, wenn sie häufig auftreten.
Unterbrechungen können die Arbeitsleistung mindern, da die Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Aufgaben geteilt werden muss. Unterbrechungen führen insbesondere bei komplexen Aufgaben zur Ablenkung vom konzentrierten Arbeiten und zu zusätzlichem Zeitaufwand. Chronische Arbeitsunterbrechungen stehen im Zusammenhang mit Burnout und Gesundheitsproblemen, insbesondere in Kombination mit Zeitdruck [1].
Zeitdruck wird umgangssprachlich häufig mit Stress gleichgesetzt, was nicht ganz korrekt ist. Zeitdruck als Merkmal der Arbeitstätigkeit kennzeichnet die Intensität, mit der gearbeitet wird. In der «Stressstudie 2010» wurden zwei Aspekte des Zeitdrucks untersucht – arbeiten mit hohem Tempo und Termindruck.
Zeitdruck ist in der Regel mit dem Zwang verbunden, mehr Information in kürzerer Zeit aufnehmen und verarbeiten zu müssen. 43% der Schweizer Erwerbstätigen arbeiten chronisch, d. h. mindestens drei Viertel bis die ganze Zeit, mit hohem Tempo. Dies ist neben «Unterbrechungen» der zweithäufigste Belastungsfaktor (Stressor).
40% der Schweizer Erwerbstätigen sind chronisch, d. h. drei Viertel bis die ganze Zeit mit starkem Termindruck konfrontiert. Termindruck stellt damit den dritthäufigsten Belastungsfaktor dar. Termindruck wird mit Stressempfinden in Zusammenhang gebracht [1].
Auch wenn fast die Hälfte der Schweizer Erwerbstätigen mit chronischen Belastungsfaktoren konfrontiert ist, sind sehr viele mit ihren Arbeitsbedingungen im Beruf zufrieden.
Arbeitszufriedenheit ist einer der am häufigsten untersuchten Indikatoren für das Befinden in der arbeitsbezogenen Stressforschung und gehört mit zur Lebenszufriedenheit. Unter Arbeitszufriedenheit wird die positive Einstellung einer Person gegenüber ihrer Arbeit verstanden, welche durch günstige Arbeitserfahrungen gefordert wird (z. B. Arbeitsbedingungen, die mit persönlichen Werten in Einklang stehen und ermöglichen, Ziele zu erreichen). Die Forschung hat gezeigt, dass Arbeitszufriedenheit insbesondere in engem Zusammenhang mit Arbeitsbedingungen (z. B. Handlungs- und Zeitspielraum), Arbeitsleistung und Commitment (sich der Firma/Organisation verbunden fühlen) steht [1].
Wie Figur 4 zeigt, sind 10% der Schweizer Erwerbstätigen überhaupt nicht oder nicht sehr zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen. 90% sind dagegen zufrieden und sehr zufrieden.
Arbeitszufriedenheit steht mit Stressempfinden, Stressoren und einer Reihe von Ressourcen (Entlastungs- oder Schutzfunktionen) in positivem (+) oder negativem (–) Zusammenhang (Fig. 5).
Burnout ist ein Zustand der emotionalen und mentalen Erschöpfung, der körperlichen Ermüdung und der gefühlsmässigen Distanzierung von der eigenen Arbeit (z. B. Zynismus gegenüber Kunden, Klienten oder Patienten), der durch die Arbeitstätigkeit entstehen kann. Personen, die unter Burnout leiden, haben das Gefühl, dass ihre «Batterien» leer sind, fühlen sich verbraucht und ausgelaugt. Burnout wird ausgelöst durch arbeitsbezogenen Stress, der nicht bewältigt wird (wie berufliche Überlastung, Mangel an Wertschätzung für die geleistete Arbeit und Probleme in der Arbeitsorganisation) [1].
Die Forschung hat zudem gezeigt, dass Burnout in allen Alters- und Berufsgruppen auftritt und nicht auf sogenannte Helferberufe wie Ärzte, Pflegefachkräfte oder Lehrpersonen begrenzt ist. Wissenschaftliche Studien ergaben zudem, dass Erwerbstätige, die unter Burnout leiden, einer höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, an Schlafstörungen und Herz-Kreislauf-Krankheiten zu leiden, häufiger am Arbeitsplatz fehlen und den Arbeitsplatz eher wechseln als solche, die nicht unter Burnout leiden [1].
Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass das Kernmerkmal von Burnout ein Gefühl der Erschöpfung ist, und einige Forscher argumentieren, dass unter Burnout ausschliesslich emotionale, mentale und körperliche Erschöpfung zu verstehen ist. Die Stressstudie 2010 konzentrierte sich daher auf den wichtigsten Aspekt der Burnouts, die Erschöpfung, und untersuchte den Teilaspekt der emotionalen Erschöpfung (sich gefühlsmässig verbraucht fühlen), vgl. [1].
Wie viele Schweizer Erwerbstätige von emotionaler Erschöpfung betroffen sind, wurde in der Studie erstmalig an einer repräsentativen Stichprobe untersucht. Die Ergebnisse beziehen sich auf die Gesamtstichprobe und schliessen Arbeitnehmer und selbständig erwerbende Personen ein [1].
In der Erhebung wurde folgende Frage gestellt: «Wie sehr trifft folgende Aussage auf Sie zu: Sie haben bei der Arbeit das Gefühlt gehabt, emotional verbraucht zu sein?» [1] Die Ergebnisse sind verblüffend (Fig. 6): Bei 75% der Schweizer Erwerbsbevölkerung trifft dies überhaupt nicht oder eher nicht zu. Bei weiteren 21% trifft es eher zu und 4% geben an, dass es völlig zutrifft. Somit sind 4% der Erwerbstätigen in einem hohen Ausmass emotional erschöpft.
Vergleiche mit anderen Studien sind nur begrenzt möglich. Es fällt jedoch auf, dass der Anteil derjenigen Personen, die sich stark von emotionaler Erschöpfung betroffen fühlen, genauso hoch ist wie in den Niederlanden, wo 4 bis 7% der Erwerbstätigen ein Niveau von Burnout aufweisen, was den Werten von Personen entspricht, bei denen Burnout von Fachpersonen (Ärzte, klinische Psychologen) diagnostiziert wurde und die aufgrund dessen in Behandlung sind. Möglicherweise haben die 4% der Schweizer Erwerbstätigen, die angeben, bei der Arbeit das Gefühl gehabt zu haben, emotional verbraucht zu sein, ein klinisches Niveau von Burnout erreicht und bedürfen psychologischer und ärztlicher Behandlung. Diese Annahme müsste jedoch in einer weiteren Studie erhärtet werden [1].
Absenzen am Arbeitsplatz verursachen hohe direkte und indirekte Kosten. Direkte Kosten umfassen beispielsweise Lohnfortzahlungen und organisatorische Umstellungen. Indirekte Kosten von Absenzen entstehen beispielweise durch Qualitätseinbussen bei Dienstleistungen und Produkten oder durch eine höhere Arbeitsbelastung und daraus resultierende geringere Arbeitszufriedenheit anwesender Mitarbeiter. Ein Teil der gesundheitsbedingten Absenzen wird durch arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme verursacht und kann mit Stress in Verbindung stehen [1].
Die überwiegende Mehrheit von Personen (86%) berichtet, in den letzten zwölf Monaten keinen Tag wegen arbeitsbedingter Gesundheitsprobleme gefehlt zu haben. Insgesamt geben damit 14% der Erwerbstätigen an, aufgrund arbeitsbedingter Gesundheitsprobleme gefehlt zu haben, vgl. [1].
Nicht alle erkrankten Erwerbstätigen bleiben der Arbeit fern. Es gibt Schätzungen, dass für die Betriebe die wirtschafltichen Folgen durch Mitarbeitende, die krank sind und trotzdem zur Arbeit kommen (Präsentismus), höher sind als durch Mitarbeitende, die bei Krankheit der Arbeit fernbleiben, da Präsentismus mit reduzierter Leistung zusammenhängt [1].
Auf die Frage «Haben Sie in den letzten 12 Monaten gearbeitet, wenn Sie krank gewesen sind?» antworten 47% der Erwerbstätigen mit Ja, 45% mit Nein und 8% geben an, in den letzten 12 Monaten nicht krank gewesen zu sein (Fig. 7).
Die Antwort auf die Frage «Wie viele Tage insgesamt sind Sie in den letzten zwölf Monaten zur Arbeit gegangen, obwohl Sie krank gewesen sind?» waren durchschnittlich neun Tage (Fig. 8).
Die meisten Betriebe erfassen psychische Belastungen (und Ressourcen) nicht systematisch und verfügen kaum über Erfahrung und Routine. Zudem kann bei den zu befragenden oder zu beobachtenden Mitarbeitenden Skepsis oder Abwehr entstehen, wenn der Zweck einer Befragung unklar ist – handelt es sich doch um einen sehr persönlichen Bereich des Arbeitslebens [4].
Das EKAS-Mitteilungsblatt Nr. 83 [5] listet neben anderen Gefährdungen auch psychische Belastungen (Fig. 9). «Unwohlsein», «krank werden» sowie «StressÂerkrankungen, Burnout» werden als schädliche Effekte genannt. Das Blatt enthält auch eine Ăśbersicht der Erhebungsverfahren zum Ermitteln psychischer Belastungen (Fig. 10).
Figur 11 zeigt das grundsätzliche Vorgehen zur Evaluation psychischer Belastungen im Betrieb. Die Erhebung muss gut geplant und vorbereitet werden, bevor die belastenden Faktoren ermittelt werden. Danach werden die Belastungsschwerpunkte erkannt und ausgewählt. Basierend darauf können Ansatzpunkte zur Entlastung identifiziert und Veränderungsideen entwickelt werden. Die gewählten Massnahmen werden umgesetzt und deren Wirksamkeit überprüft. Damit beginnt der Zyklus von neuem mit einer weiteren Runde dieser Aktivitäten, was im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung zu sehen ist.
Der Leitfaden zur Ermittlung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz [4] stellt ein mögliches Vorgehen für kleinere und mittlere Betriebe vor: Im folgenden Abschnitt werden Empfehlungen für Betriebe mit weniger als zehn Mitarbeitenden sowie Betriebe mit mehr als zehn gegeben. Dabei kommen zwei unterschiedliche Erhebungsverfahren nach Betriebsgrösse zum Einsatz [4]:
Erfassung der Merkmale mittels Beobachtung der Arbeitsabläufe und Gruppendiskussion.
Erfassung der Merkmale mittels Beobachtung der Arbeitsabläufe und Befragung der Beschäftigten.
Checklisten zur Groberfassung setzen das Einverständnis aller Verantwortlichen und Beteiligten voraus. Aufgrund der unterschiedlichen Ursachen für die beeinträchtigenden Folgen psychischer Belastung und Beanspruchung gibt es eigene Checklisten für Stress, psychische Ermüdung, Monotonie und psychische Sättigung.
Je Checkliste werden die angekreuzten Merkmale addiert. Mögliche Handlungserfordernisse ergeben sich gemäss nachfolgender Tabelle. Basierend auf der Auswertung erfolgt eine Gruppendiskussion, die der Anonymität unterliegt.
Risiko | Kein Risiko | Erhöhtes Risiko | Hohes Risiko |
Handlungsbedarf | Handlungsbedarf bei einzelnen Merkmalen | Gestaltung empfohlen |
Gestaltung dringend erforderlich |
Anzahl Merkmale | 1 bis 3 Merkmale angekreuzt | 4 bis 6 Merkmale angekreuzt | 7 bis 10 Merkmale angekreuzt |
Die Datenauswertung erfolgt quantitativ bezogen auf die Anzahl der angekreuzten Antworten je Merkmal (umgerechnet in %). Mögliche Handlungserfordernisse ergeben sich aus der Übereinstimmung der Urteile innerhalb einer Gruppe je Merkmal einer Checkliste:
Risiko | Kein Risiko | Erhöhtes Risiko | Hohes Risiko |
Handlungsbedarf | HandlungsÂbedarf bei einzelnen Merkmalen | Gestaltung empfohlen |
Gestaltung dringend erforderlich |
Anzahl Merkmale | 0 bis 33% | 34 bis 66% | 67 bis 100% |
Basierend auf der Auswertung erfolgt auch hier eine Gruppendiskussion, die der Anonymität unterliegt. Weitere Details und Beispiele für Checklisten sind im Leitfaden für die Gefährdungsbeurteilung in Klein- und Mittelbetrieben [4] zu finden.
Beim Risiko psychischer Überforderung sollten Massnahmen der Arbeitsfeldverkleinerung und des Aufbaus organisatorischer und technischer Ressourcen durchgeführt werden. Wenn das Risiko für eine psychische Unterforderung ermittelt wird, sind Massnahmen der Arbeitsfeldvergrösserung ratsam [4].
Um dem Risiko psychischer Über- oder Unterforderung vorzubeugen, können Massnahmen ergriffen werden, um negative Kurzzeitfolgen wie Stress zu vermeiden. Beispiele zur Vermeidung von Stress sind die Reduzierung potenzieller Stressoren, z. B. durch Schaffung von Freiheitsgraden, Möglichkeiten zur Unterstützung durch Kollegen oder Vorgesetzte und Schaffung vollständiger Aufgabenstrukturen. Ausserdem durch die Steigerung der personellen Ressourcen durch zielgerichtete Aus- und Weiterbildung, Selbstmanagement (Zeitmanagement, Stressbewältigung), Einstellungsänderung (Perfektionismus und Konkurrenzdenken abbauen) sowie flankierend: gesunde Ernährung und Sport.
Beispiele von Massnahmen zur Vermeidung von psychischer Ermüdung sind die systematische Pausengestaltung (viele kurze Pausen, Kurzpausensystem und erholsamer Pauseninhalt) sowie die Steigerung der potenziellen Ressourcen durch Training geistiger und körperlicher Leistungsvoraussetzungen und Aufbau optimaler interner Repräsentationen durch gezieltes Erlernen.
Beispiele zur Vermeidung von Monotonie sind planmässiger Tätigkeitswechsel (job  rotation), Angebot von Mischtätigkeiten und die Einführung von Gruppenarbeit. Das Erleben von Monotonie verschwindet nach einem Tätigkeitswechsel schlagartig.
Beispiele zur Vermeidung von psychischer Sättigung sind Änderung der Organisationsstruktur, Abbau strenger zeitlicher Bindungen, Schaffung von Transparenz, Sensibilisierung für die Folgen von Fehlern, direkte und baldige Rückmeldung über den Verlauf und die Ergebnisse der Arbeit, Beteiligung von Beschäftigten an wichtigen Entscheidungen und Reorganisationsmassnahmen, Übertragung von Verantwortung sowie qualifikations- und fähigkeitsgerechter Einsatz.
Gesamtziel ist eine optimale Beanspruchung der Mitarbeiter. Voraussetzung dafür ist ein optimales Verhältnis zwischen den Leistungsvoraussetzungen, z. B. Qualifikation, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Höhe und Art der psychischen Belastung.
Psychische Belastungen sind ein ständiger Begleiter in der Arbeitswelt. Anforderungen und Rahmenbedingungen, die in einem gesunden Umfeld auch anspornend wirken können, werden in Kombination mit anderen Stressoren (namentlich Zeitdruck) als belastend wahrgenommen und können chronisch zu Erkrankungen führen (z. B. Burnout). Es handelt sich dabei an sich nicht um ein neues Phänomen, neu ist jedoch die öffentliche Debatte und der systematischere Ansatz zur Erkennung und zum Umgang mit Stressoren.
Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung des Themas sind Unternehmen aller Branchen gut beraten, ihre Betriebskultur (Arbeitsorganisation, Betriebsklima) im Auge zu behalten, vorbeugend nachhaltig zu gestalten und wenn nötig zu verbessern.
Das SVGW/VSE-Sicherheitshandbuch widmet dem Thema Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz ein eigenes Kapitel (Kap. 12). Mitgliedern der SVGW-Branchenlösung «Arbeitssicherheit & Gesundheitsschutz» stehen zudem Spezialisten der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes aus dem «ASA-Pool» für weitergehende individuelle Beratungen auf Auftragsbasis in den Betrieben zur Verfügung.
[1] Seco (2010): Stressstudie 2010: Stress bei Schweizer Erwerbstätigen - Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit
[2] Aargauer Zeitung: Arbeitgeber sollen bei Burnout zahlen – bürgerliches Lager dagegen
[3] Nationalrat Sommersession 2019 Neunte Sitzung 13.06.19 15h00 18.416Â
[4] Richter, G. et al. (2008): Leitfaden für die Gefährdungsbeurteilung in Klein- und Mittelbetrieben. Psychische Belastung. Ermittlung und Bewertung von Gefährdungen; Festlegen von Massnahmen. Herausgegeben von issa Internationale Vereinigung Für Soziale Sicherheit. Bochum. ISBN 978-3-941441-03-3
[5] EKAS (2016): Mitteilungsblatt Nr. 83. Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit EKAS
«AQUA & GAS» gibt es auch als E-Paper. Abonnenten, SVGW- und/oder VSA-Mitglieder haben Zugang zu allen Ausgaben von A&G.
Den «Wasserspiegel» gibt es auch als E-Paper. Im SVGW-Shop sind sämtliche bisher erschienenen Ausgaben frei zugänglich.
Kommentare (0)