Starkregenereignisse dürften sich aufgrund des Klimawandels in Zukunft häufen – zumindest verdichten sich die Anzeichen dafür. Die Abwasserinfrastruktur muss in erster Linie dort angepasst werden, wo das Schadenspotenzial hoch ist. Zudem müssen die Fliesswege an der Oberfläche für Starkregenereignisse, die nicht mehr über das Kanalsystem abgeführt werden, ermittelt werden. Dies erfordert eine Anpassung der Methodik zur Überprüfung der hydraulischen Leistungsfähigkeit von Entwässerungssystemen.
Die technologischen Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahren so weit entwickelt, dass diese Randbedingungen berücksichtigt und die massgebenden Prozesse modelltechnisch abgebildet werden können. Im Zentrum steht dabei die Einführung des integralen Risikomanagements im Umgang mit Starkregenereignissen im Siedlungsraum. Teil dieser Betrachtung sind sowohl die Abflussprozesse im Kanalisationssystem wie auch der Oberflächenabfluss.
In der Schweiz wird durch den Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (VSA) die neue Empfehlung «Hydraulische Beurteilung in der Siedlungsentwässerung» erarbeitet. Mit der Empfehlung wird die Methode des integralen Risikomanagements in der Siedlungsentwässerung eingeführt. In Deutschland wird den Entwicklungen im Starkregenmanagement im Regelwerk der DWA durch die Überarbeitung des Arbeitsblattes A 118 Rechnung getragen. Dabei werden die Vorgaben aus der überarbeiteten Europäischen Norm EN 752 [1] aufgenommen und für die jeweiligen Länder präzisiert.
Im vorliegenden Artikel werden die Neuerungen im Vergleich zur gängigen Praxis und die wichtigsten Inhalte der neuen VSA-Empfehlung und der Anpassungen des DWA-Arbeitsblattes A 118 vorgestellt. Abschliessend erfolgt eine Diskussion der neuen Aspekte in den Methodiken und ein Vergleich der zukünftigen Praxis in Deutschland und in der Schweiz.
Bisher erfolgte die Überprüfung von Entwässerungssystemen in der Schweiz nach keinem einheitlichen Vorgehen. Mit der neuen Empfehlung soll es harmonisiert werden. Gleichzeitig wird die Methodik des integralen Risikomanagement in der Siedlungsentwässerung eingeführt. Ausserdem rückt die gemeinsame Betrachtung des Kanalisationssystems und des Oberflächenabflusses in den Fokus.
Die Kanalnetze in der Schweiz wurden bis anhin mit ausgewählten historischen Regen oder Modellregen mit einer definierten Jährlichkeit dimensioniert. Dabei wurde davon ausgegangen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Niederschlagsmenge und zu erwartendem Abfluss besteht. Oberflächlich abfliessendes Wasser, das nicht in die Kanalisation gelangt, wurde als Naturgefahr behandelt und separat beurteilt. Die Prozesse der kanalinduzierten Überflutung (Überlastung des Kanalnetzes mit Austritt von Wasser auf die Oberfläche) und des direkten Oberflächenabflusses hängen jedoch eng zusammen.
Die VSA-Empfehlung führt die Methode des integralen Risikomanagements in der Siedlungsentwässerung ein. Dies erfordert einen Paradigmenwechsel: Als Grundlage für die gesamthafte Beurteilung des Entwässerungssystems und des Oberflächenabflusses werden differenzierte Schutzziele für verschiedene Schutzgutklassen (Sachwerte, Nutzungen) definiert.
Weiter erfolgt die hydraulische Überprüfung von Kanalnetzen basierend auf Langzeitsimulationen mit Regenreihen oder einem Regenereigniskatalog aus historischen Regendaten von repräsentativen Messstationen für das betrachtete Gebiet. Die Beurteilung der hydraulischen Leistungsfähigkeit der Kanalnetze erfolgt schliesslich anhand der Ergebnishäufigkeit (Maximalwasserstände in den Schächten und Leitungen) und nicht anhand eines Dimensionierungsregens.
Dieser Paradigmenwechsel ist möglich, da in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Bereich der Simulationsmöglichkeiten und Analysen enorme Fortschritte erzielt wurden und mittlerweile längere und hochaufgelöste Aufzeichnungen zu Regenereignissen vorliegen.
Basis für die hydraulische Überprüfung von Entwässerungssystemen bildet die hydrodynamische Kanalnetzsimulation. Die Überprüfung ermöglicht, die Defizite im Kanalnetz hinsichtlich der festgelegten Schutzziele zu bestimmen und Massnahmen zu definieren.
Wichtige Grundlagen für die Überprüfung von Entwässerungssystemen sind das anzustrebende Schutzniveau sowie die Bereitstellung geeigneter Regendaten. Zur Bestimmung des Schutzniveaus werden die Schutzgüter anhand ihres Schadenpotenzials in Schutzgutklassen eingeteilt. Die VSA-Empfehlung schlägt abgestufte Schutzziele für vier Klassen mit zulässigen Häufigkeiten gemäss
Tabelle 1 vor.
Als rechnerische Prüfgrösse wird die Schadenslinie, zwischen Rohrscheitel und Terrain, eingeführt. Die Schadenslinie und die zulässige Häufigkeit von Überstau in Schächten (Wasserstand höher als die Schadenslinie) wird spezifisch für jedes Gemeindegebiet festgelegt.
Schächte mit einem potenziellen Wasseraustritt können zu einer kanalinduzierten Überflutung führen und werden als Wet-Spot in die Oberflächenabflussbetrachtung aufgenommen. Diese Schächte werden mittels einer hydrodynamischen Simulation mit einem Starkregenereignis mit einer Jährlichkeit von 15 bis 30 Jahren ermittelt.
Die Gefährdung des Siedlungsgebietes durch Oberflächenabfluss wird mit einem zweistufigen Vorgehen ermittelt. Für die erste Stufe (Grobanalyse) wird insbesondere die Verwendung der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss des BAFU [2] empfohlen. Anhand der Gefährdungskarte wird die potenzielle Betroffenheit von Schutzgütern festgestellt. Damit können Orte identifiziert werden, die durch Oberflächenabfluss gefährdet sind und einer detaillierteren Betrachtung bedürfen (Wet-Spots).
Eine Detailanalyse (zweite Stufe) erfolgt für ausgewählte Teilgebiete. Dabei werden die in der Grobanalyse festgelegten Schutzziele durch eine 2D-Simulation und eine qualitative Risikobewertung überprüft. Die Wahl und der Detaillierungsrad der Methode zur Untersuchung der Auswirkungen von Oberflächenabfluss orientieren sich an der Zielsetzung der Massnahmen.
Analog zur Beurteilung von Naturgefahren werden drei Regenereignisse mit einer Eintrittshäufigkeit von einmal in 30, 100 und 300 Jahren (häufig, mittel, selten) herangezogen. Diese werden aus der Extremwertstatistik einer geeigneten Niederschlagsmessstation ermittelt. In der Empfehlung werden konkrete Vorgaben für die Wahl und den Einsatz von Regendaten gegeben.
Bereits seit Mitte der 1950er-Jahre bestehen in Deutschland Richtlinien für die hydraulische Auslegung von Regen- und Mischwasserkanälen [3]. Diese wurden seitdem im Arbeitsblatt A 118 «Hydraulische Bemessung und Nachweis von Entwässerungssystemen» der DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V.) dokumentiert und laufend weiterentwickelt [4].
Die Aufrechterhaltung hygienischer Verhältnisse sowie die weitgehende Vermeidung von Überflutungsschäden sind massgebliche Zielsetzungen für die Planung von öffentlichen Entwässerungssystemen. Zentrales Anliegen der Neufassung des Arbeitsblattes A 118 [4] war daher die Überarbeitung der Kriterien für einen hinreichenden Schutz vor Überflutungen in Abhängigkeit vom anzustrebenden Schutzniveau.
Anpassungsbedarf für die Überarbeitung des DWA-Arbeitsblatts A 118 bestand insbesondere hinsichtlich der hydraulischen Bewertung von Entwässerungssystemen für Regen- und Mischwasser im Kontext eines kommunalen Starkregenrisikomanagements. Wesentliche Neuerungen des Arbeitsblattes betreffen daher die Überarbeitung der Kriterien für einen hinreichenden Schutz vor Überflutungen in Abhängigkeit vom anzustrebenden Schutzniveau anhand von Überstau- und Überflutungshäufigkeiten.
Aufgrund der hohen Relevanz des Klimawandels sowie städtebaulicher und demografischer Entwicklungen für die Entwässerungsplanung werden auch diese Aspekte im Arbeitsblatt aufgegriffen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die anzusetzenden Belastungsgrössen qualitativ bewertet. Mit der Neufassung wird entsprechend den Anforderungen der DIN-EN 752 [1] und den methodischen Empfehlungen nach DWA-M 119 [5] zudem auch eine verbindliche Prüfung der Überflutungsrisiken für bestehende Entwässerungssysteme eingeführt.
Das Arbeitsblatt A 118 [4] gibt Ansätze für die Ermittlung der relevanten Belastungsgrössen Schmutzwasser-, Fremdwasser- und Regenwasserabfluss vor. Die Niederschlagsintensität als wesentliche Belastungsgrösse für die Überstau- und Überflutungsbetrachtung bei Regen- und Mischentwässerungssystemen kann dabei anhand von Modellregen entsprechender Wiederkehrzeiten, anhand von gemessenen oder synthetischen Niederschlagsreihen oder anhand von Radarregendaten angesetzt werden.
Die Anforderungen an die hydraulische Leistungsfähigkeit von Entwässerungssystemen für Regen- und Mischwasser werden abhängig vom anzustrebenden Schutzniveau gegenüber starkregenbedingten Überflutungen und deren Auswirkungen auf die Schutzgüter Mensch, Umwelt, Versorgung, Wirtschaft und Kultur in vier Schutzkategorien festgelegt: gering, mässig, stark, sehr stark.
Die hydraulische Bewertung der Entwässerungssysteme erfolgt anhand der Kriterien «Überstauhäufigkeit» und «Überflutungshäufigkeit». Die Überstauhäufigkeit stellt ein praxisbewährtes und relativ genau zu berechnendes Kriterium zur Bewertung der hydraulischen Leistungsfähigkeit von kanalgebundenen Entwässerungssystemen dar. Aus der Erfüllung des Überstaukriteriums allein kann jedoch noch kein hinreichender Überflutungsschutz abgeleitet werden. Demgegenüber kann die zulässige Überstauhäufigkeit im Einzelfall geringfügig überschritten werden, wenn aufgezeigt wird, dass das geforderte Schutzniveau hinsichtlich des Überflutungsschutzes erreicht wird.
Die Überflutungshäufigkeit bezieht sich auf kanalinduzierte Überflutungen sowie Überflutungen aufgrund oberflächiger Zuflüsse unter Berücksichtigung der hydraulischen Kapazitäten des Entwässerungssystems, der Speicher- und Ableitungskapazitäten an der Oberfläche sowie der Ausprägung des vorhandenen Objektschutzes. Unter Überflutung wird dabei abweichend von der Definition in DIN-EN 752 [1] ein Zustand verstanden, bei dem Abwasser aus einem Entwässerungssystem entweichen oder nicht in dieses eintreten kann und dies zu Schäden oder Nutzungseinschränkungen führen kann.
Die Überprüfung bestehender Systeme umfasst den Nachweis der Überstauhäufigkeit nach Tabelle 1 und eine generelle Prüfung der Überflutungsrisiken entsprechend der Empfehlungen nach DWA-Merkblatt M 119 [5] mit einer Gefährdungsanalyse als zentralem Bestandteil. Sie bildet die Grundlage für die Identifizierung des aus Sicht des kommunalen Überflutungsschutzes bestehenden Handlungsbedarfes und der Priorisierung abzuleitender Massnahmen. Die hydraulische Auslegung von Massnahmen am Kanalnetz im Zuge der generellen Sanierungs- und Erschliessungsplanung umfasst dann die Schritte Vorbemessung, Nachweis der Überstauhäufigkeit und die Prüfung der Überflutungshäufigkeit nach Tabelle 1.
Die technischen Regelwerke für die Überprüfung von Entwässerungssystemen wurden dem Stand der Technik angepasst. Sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland wird eine risikobasierte Methodik [7] eingeführt, indem das Schutzniveau in Abhängigkeit der Schutzgüter festgelegt wird. Ausserdem wird den Entwicklungen im Starkregenmanagement Rechnung getragen.
Die Einteilung der Schutzgüter erfolgt in beiden Ländern nach EN 752 [1] in vier Schutzgutklassen in Abhängigkeit der Auswirkung, respektive des Ausmasses von möglichen Schäden. In Deutschland wird für bestehende und neue Systeme ein unterschiedliches Schutzniveau angestrebt. In der Schweiz gilt das gleiche Schutzniveau. Das Schutzniveau hinsichtlich der geforderten Überstauhäufigkeiten in Deutschland ist generell tiefer angesetzt. Dies ist historisch bedingt und entspricht der heutigen Praxis.
Die Überprüfung der Schutzziele hinsichtlich Überstau erfolgt nach VSA-Empfehlung anhand der Ergebnishäufigkeit (maximaler Wasserstand). Dafür müssen Regenreihen mit eine Aufzeichnungsdauer von mindestens 30 Jahren verwendet werden. Nach DWA A 118 kann die Überstau- und Überflutungsbetrachtung mittels Modellregen entsprechender Wiederkehrzeiten, gemessenen oder synthetischen Niederschlagsreihen oder Radarregendaten angesetzt werden.
Die Beurteilung von Entwässerungssystemen anhand von Überstau stellt in beiden Ländern eine bewährte Praxis dar und basiert auf hydrodynamischen Simulationen.
Neu ist die verbindliche Überprüfung der Entwässerungssysteme hinsichtlich eines ausreichenden Schutzes vor Überflutungen. Die Definition des Begriffes «Überflutung» weicht in beiden Ländern von der EN 752 [1] ab.
Die Überflutungsprüfung, respektive der Umgang mit Oberflächenabfluss umfasst in beiden Ländern Überflutungen aufgrund oberflächlicher Zuflüsse wie auch kanalinduzierte Überflutungen. In Deutschland stellt die Gefährdungsanalyse (nach DWA-Merkblatt M 119 [5]) den zentralen Bestandteil der generellen Prüfung von Überflutungsrisiken für bestehende Entwässerungssysteme dar. Dabei werden Niederschlagsbelastungen mit einer Wiederkehrzeit von 30 und 50 Jahren empfohlen. Aus Sicht des kommunalen Überflutungsschutzes wird daraus der erforderliche Handlungsbedarf identifiziert. In dem DWA-Arbeitsblatt A 118 werden konkrete Schutzziele vor Überflutungen festgelegt, die jedoch oftmals nicht allein durch das kanalgebundene Entwässerungssystem erfüllt werden können. Die hydraulische Überprüfung der abzuleitenden Massnahmen erfolgt nach DWA A 118 im Zuge der generellen Entwässerungsplanung für die Sanierungs- und Neubauplanung dann anhand einer Überstau- und Überflutungsberechnung.
Zum Umgang mit Oberflächenabfluss wird in der VSA-Empfehlung ein zweistufiges Vorgehen vorgeschlagen, das an die Praxis im Umgang mit Naturgefahren angelehnt ist. In einer Grobanalyse sollen anhand von vorhandenen Grundlagen und Ortsbegehungen die Stellen mit Handlungsbedarf (Wet-Spots) identifiziert werden. In der anschliessend Detailanalyse kann eine modellbasierte Abbildung der Prozesse und eine qualitative Risikobeurteilung erfolgen.
Der Klimawandel führt zu häufiger auftretenden Starkregenereignissen. Wissenschaftliche Untersuchungen weisen aber bislang kein erkennbares Klimasignal hinsichtlich der für die hydraulische Auslegung der Siedlungsentwässerung relevanten Niederschlags-Dauerstufen aus. Deshalb wird in der Schweiz wie auch in Deutschland vorerst von einer direkten Berücksichtigung des Klimawandels abgesehen. Es soll keine pauschale Erweiterung von Kanalkapazitäten erfolgen, jedoch wird empfohlen, unter Kosten-Nutzen-Abwägung geeignete Leistungsreserven bei der Massnahmenplanung vorzuhalten.
[1] Europäisches Komitee für Normung CEN (2017): Europäische Norm EN 752 Entwässerungssysteme ausserhalb von Gebäuden – Kanalmanagement. Technisches Komitee CEN/TC, Brüssel
[2] Bundes Amt für Umwelt (2018): Faktenblatt, Gefährdungskarte Oberflächenabfluss, BAFU, SVV, VKG
[3] ATV (1956): Richtlinien für die Berechnung von Regen- und Mischwasserkanälen, ATV-Regelwerk, Hennef
[4] DWA (2022): Arbeitsblatt A 118 «Planung und hydraulische Überprüfung von öffentlichen Entwässerungssystemen», Entwurf zur Stellungnahme, DWA-Regelwerk, Hennef
[5] Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V. (2016): Merkblatt M119: Risikomanagement in der kommunalen Überflutungsvorsorge für Entwässerungssysteme bei Starkregen. DWA-Regelwerk, Hennef
[6] DWA (2021): Merkblatt DWA-M 165 «Anforderungen an Niederschlag-Abfluss- und Schmutzfrachtmodelle in der Siedlungsentwässerung», DWA-Regelwerk, Hennef
[7] Bundesamt für Raumentwicklung, Bundesamt für Wasser und Geologie, Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (2005): Empfehlung Raumplanung und Naturgefahren, Bern
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