Herr Wunderlin, wie weit ist der ARA-Ausbau in der Schweiz, der von der Gewässerschutzgesetzgebung gefordert wird, fortgeschritten? Wie viele Anlagen sind bereits in Betrieb?
Der Ausbau kommt gut voran und es wird sehr gute Arbeit auf allen Ebenen geleistet. Wenn man bedenkt, dass die gesetzlichen Grundlagen erst seit Anfang 2016 in Kraft sind, ist es bemerkenswert, dass bereits zwölf Anlagen in Betrieb sind. Diese zwölf Anlagen reinigen rund 10% des häuslichen Abwassers der Schweiz. Die Plattform erarbeitet für jede dieser Anlagen gemeinsam mit der jeweiligen Kläranlage einen Anlagensteckbrief, der auf der Website der Plattform unter www.micropoll.ch verfügbar ist.
Und wie viele Anlagen befinden sich in der Planungs- bzw. in der Bauphase?
Bei weiteren rund 35 Kläranlagen ist die Umsetzung entweder bereits in der Planungs- oder in der Bauphase. Es läuft somit sehr viel und es tauchen immer wieder neue Fragen auf. Das macht es unglaublich spannend, in diesem Bereich zu arbeiten.
Da läuft also einiges. Bis wann müssen wie viele Kläranlagen mit einer solchen Reinigungsstufe ausgebaut sein?
Der Bau einer solchen Reinigungsstufe ist zu 75% durch eine nationale Abwasserabgabe finanziert. Diese Abgabe ist befristet und wird bis im Jahr 2040 erhoben. Das heisst, dass die Anlagen bis 2040 in Betrieb sein müssen. Es werden aber nicht alle Kläranlagen eine solche Reinigungsstufe erhalten, sondern nur jene, die gewisse Kriterien erfüllen und durch die kantonalen Planungen zum Ausbau verpflichtet wurden. Gemäss diesen Kriterien sind die grössten Kläranlagen, mittelgrosse Kläranlagen im Einzugsgebiet von Seen und Kläranlagen an Gewässern mit einem hohen Anteil an gereinigtem Abwasser betroffen. Aufgrund der bisherigen Planungen geht das Bundesamt für Umwelt (BAFU) davon aus, dass bis 2040 rund 135 bis 180 Kläranlagen in der Schweiz ausgebaut werden.
Welche technischen Verfahren kommen zum Einsatz?
Bei den Verfahren haben sich Anlagen mit Ozon und Aktivkohle etabliert. Aktuell sind 5 Ozonungen und 5 Anlagen mit Pulveraktivkohle in Betrieb. Eine Kläranlage wurde mit einer granulierten Aktivkohlefiltration ausgerüstet und bei einer weiteren kam eine Verfahrenskombination, d. h. eine Ozonung in Kombination mit einer granulierten Aktivkohlefiltration, zum Einsatz (s. Karte). Die umgesetzten Verfahren sind somit vielfältig. Das ist positiv, denn es gilt bei jeder ausbaupflichtigen Kläranlage das jeweils am besten geeignete Verfahren zu realisieren.
Welche Rolle spielt die Plattform bei der Entwicklung dieser Technologien?
Sie spielt eine aktive Rolle, denn es ist eine zentrale Aufgabe der Plattform, Kompetenzen und Wissen zu den Technologien aufzubauen. Wir sind beispielsweise in diverse laufende Forschungs- und Pilotierungsprojekte involviert, initiieren bei relevanten offenen Fragestellungen neue Projekte oder werden zur Beurteilung neuartiger Verfahren angefragt. Wichtig dabei ist, dass wir unabhängig und neutral sind und für Einschätzungen bei Bedarf auf ausgewiesene Fachleute zurückgreifen können. Eine wichtige Aufgabe ist auch, dieses Wissen an die Branche weiterzugeben. Hierzu verfassen wir Fachartikel und Berichte und informieren an Veranstaltungen oder über unsere Website.
Lassen sich Trends erkennen, welche Verfahren für welche ARA ausgewählt werden?
Das ist schwierig zu sagen, denn jede Kläranlage hat ihre eigenen spezifischen Randbedingungen. Wir sehen aber, dass die Verfahren sehr sorgfältig unter Berücksichtigung der relevanten Randbedingungen ausgewählt werden. Zu den Trends kann ich Folgendes sagen: verschiedene Verfahren werden häufiger miteinander kombiniert und die Verfahren mit Pulveraktivkohle werden tendenziell kompakter. Zudem sind mit der granulierten Aktivkohle weitere Verfahrensvarianten hinzugekommen, beispielsweise die granulierte Aktivkohle im Schwebebett oder im statischen Filter.
Welche Beispiele für typische Randbedingungen können Sie nennen, die in die Verfahrenswahl hineinspielen?
Das können die Platzverhältnisse auf einer Kläranlage, das bestehende biologische Reinigungsverfahren oder das Einzugsgebiet sein. Zum Einzugsgebiet ist anzufügen, dass es insbesondere für die Ozonung eine relevante Randbedingung darstellt. Denn nicht jedes Abwasser ist für eine Ozonung geeignet. Aus gewissen Abwasserinhaltsstoffen, vor allem solchen von bestimmten Industrie- oder Gewerbeabwassereinleitern, können stabile, toxische Oxidationsnebenprodukte, wie beispielsweise Bromat, in relevanten Mengen gebildet werden. Das ist unerwünscht und entspricht nicht einem sachgemässen Gewässerschutz. Daher ist es wichtig, dass diese Aspekte frühzeitig abgeklärt werden. Dazu hat die Plattform gemeinsam mit verschiedensten Expertinnen und Experten die VSA-Empfehlung «Abklärungen Verfahrenseignung Ozonung» entwickelt. Diese Abklärungen sind in der Praxis mittlerweile etabliert und wurden bereits bei über 40 Kläranlagen durchgeführt.
Gibt es neben dem reichen Informationsangebot auf der Website noch weitere Angebote der Plattform, um den Wissens- und Erfahrungsaustausch zu fördern?
Ja, die Plattform erarbeitet Fachartikel und Berichte zu priorisierten Themen, führt Fachtagungen durch und periodisch auch Exkursionen. Wir verfassen zweimal jährlich einen Newsletter, worin über Aktuelles informiert wird. Im Weiteren fördert die Plattform den gezielten Austausch zwischen den Akteuren. So hat die Plattform beispielsweise im Jahr 2018 für Kläranlagen mit einer Stufe zur Elimination von Mikroverunreinigungen eine ERFA-Gruppe ins Leben gerufen.
«Es ist ein gezielter Wissensaufbau im Bereich der Mikroverunreinigungen in Industrieabwässern und der möglichen Massnahmen zur Verminderung dieser Einleitungen aus Betrieben notwendig.»
Vor kurzem wurde die Plattform erweitert: Zum Themengebiet ARA-Ausbau und dazugehörige Verfahren ist das Themengebiet Massnahmen an der Quelle hinzugekommen. Warum kam es zu dieser Erweiterung?
Der Hintergrund ist, dass durch eine gezielte Verstärkung der Massnahmen an der Quelle die Einträge von Mikroverunreinigungen in die Gewässer weiter reduziert werden sollen. Zu diesem Schluss ist der Bundesrat im Bericht vom Juni 2017 «Massnahmen an der Quelle zur Reduktion von Mikroverunreinigungen» gekommen. Ein relevanter Bereich sind dabei Stoffeinträge aus Industrie und Gewerbe in Gewässer. Dazu führt die Plattform aktuell in Zusammenarbeit mit dem BAFU, den Kantonen und Branchenverbänden eine schweizweite Situationsanalyse durch.
Welche Ziele werden damit verfolgt?
Es geht darum, eine Übersicht über die Belastung der Gewässer mit Stoffen aus Industrie und Gewerbe zu erarbeiten und allfälligen Handlungsbedarf zu identifizieren. Die Auswirkungen von Industrieabwasser auf die Gewässer waren bis in die 1990er Jahre ein grosses Thema. Gestützt auf die Gewässerschutzgesetzgebung wurden die Betriebe abwassertechnisch saniert und die Schmutzstofffrachten stark reduziert. Es werden jedoch viele verschiedene organisch-synthetische Stoffe hergestellt und verwendet. Ein Überblick über die Belastung der Gewässer mit solchen Mikroverunreinigungen aus Betrieben fehlt. Bei der Analyse der aktuellen Situation zeigt sich daher, dass ein gezielter Wissensaufbau im Bereich der Mikroverunreinigungen und der möglichen Massnahmen zur Verminderung dieser Einleitungen aus Betrieben notwendig ist. Einige Projekte dazu sind bereits angelaufen.
Der VSA verfügt mit dem CC «Industrie und Gewerbe» bereits über sehr viele Kompetenzen und Wissen in diesem Bereich. Ist das CC bei der Plattform involviert?
Ja, hier besteht eine enge Zusammenarbeit, denn es ist essenziell, dass die Erkenntnisse aus diesen Projekten in die Praxis einfliessen. Wichtige Produkte sind diesbezüglich die Aus- und Weiterbildungsangebote wie auch die Leitfäden und interkantonalen Merkblätter des CC «Industrie und Gewerbe» zur Unterstützung und Harmonisierung des schweizweiten Vollzugs. Durch die Plattform erarbeitetes Wissen fliesst in diese Produkte ein. Im Bereich des Kläranlagenausbaus besteht überdies eine enge Zusammenarbeit mit dem CC «Abwasserreinigung».
«Das aktive Mitwirken von planenden Ingenieuren, Behörden, Forschern, Ausrüstern, ARA-Betreibern, Betrieben oder Branchenverbänden erlaubt eine breite Abstützung der Arbeiten der Plattform.»
Die Plattform steht nicht allein auf weiter Flur, sondern ist eingebettet in ein aktives Umfeld. Mit welchen Akteuren arbeitet die Plattform national zusammen?
Die Plattform ist auf nationaler Ebene bestens vernetzt und etabliert. Sie steht allen offen, die sich für solche Fragestellungen interessieren oder zum Themenbereich konkrete Ideen oder Anliegen haben. Nur das aktive Mitwirken verschiedener Expertinnen und Experten wie planender Ingenieure, Behörden, Forscher, Ausrüster, Kläranlagenbetreiber, Betriebe oder Branchenverbände erlaubt eine breite Abstützung der Arbeiten der Plattform.
Und wie sieht dies international aus?
Wir pflegen auch den internationalen Austausch. Enge Kontakte bestehen beispielsweise mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. In den beiden deutschen Bundesländern laufen ebenfalls viele Aktivitäten rund um den Ausbau von Kläranlagen zur Elimination von Mikroverunreinigungen. Insgesamt nehmen Anfragen aus dem Ausland zu, weil sich die Schweizer Aktivitäten bezüglich Kläranlagenausbau international herumsprechen. Diese Leute möchten von unseren Erfahrungen lernen.
Neun Jahre ist die Plattform nun alt. Was waren die wichtigsten Meilensteine, die in den ersten neun Jahren erreicht wurden?
Die Plattform hat seit ihrer Gründung Anfang 2012 gemeinsam mit vielen Expertinnen und Experten zentrale Produkte erarbeitet, die in die Praxis eingeflossen sind und den Ausbau der Kläranlagen um eine zusätzliche Reinigungsstufe unterstützen. Auf diese Weise konnte sich die Plattform über die Jahre etablieren und massgeblich zur Umsetzung beitragen. An dieser Stelle ein grosses Dankeschön an alle, die sich für die Plattform engagiert haben! Ohne euch wäre das nicht möglich gewesen. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war die Erweiterung des Aufgabenbereichs um das Thema Stoffeinträge aus Industrie und Gewerbe Mitte 2019. Das Erfolgsmodell Plattform wurde auch auf andere Bereiche ausgeweitet: 2015 wurde die Plattform Wasserqualität gegründet, mit der wir eng zusammenarbeiten.
Was ist für die nächsten zehn Jahre geplant?
Der Ausbau der Kläranlagen um eine zusätzliche Reinigungsstufe ist in vollem Gange. Es geht nun darum, von diesen Erfahrungen zu lernen und an andere Kläranlagen weiterzugeben, denen der Ausbau noch bevorsteht. Zudem wird sich die Plattform gemeinsam mit den verschiedensten Expertinnen und Experten in den nächsten Jahren auch im Bereich Stoffeinträge aus Industrie und Gewerbe engagieren. Auch hier wollen wir einen massgeblichen Beitrag für den Gewässerschutz leisten. Für mich ist es ein grosses Privileg, für die Plattform und den VSA tätig zu sein und den Gewässerschutz weiter voranzubringen. In diesem Sinne: Auf die nächsten zehn Jahre!
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