Das Einstiegsreferat «Unfall- und Präventionsschwerpunkte in der Versorgungsbranche» hielt Thomas Ratzer. Er ist bei der Suva im Bereich Gewerbe und Industrie tätig und betreut die EKAS-Branchenlösung des SVGW. Als Erstes ging er der Frage nach, wie es zu Unfällen kommt. Er plädierte dafür, diese Frage nicht mit «Ist halt dumm gelaufen» abzutun, sondern den Unfallhergang genau zu untersuchen und dabei in die Tiefe zu gehen. In die Tiefe gehen heisse, sich nicht mit einer schnellen, einfachen Beschreibung des Unfallhergangs zufriedenzugeben, denn häufig könnte ein aktiver, offensichtlicher Fehler folgenlos respektive ohne grössere Folgen bleiben, wenn nicht gleichzeitig latent ungünstige Bedingungen vorliegen würden. Oftmals werde eben nur das letzte Glied in einer Kette als eigentlicher Fehler wahrgenommen und der verunfallte Mitarbeiter und seine Handlung stünden im Fokus. Dabei liege die Ursache nicht selten in einer Kombination ungünstiger Bedingungen und der Fehler des Mitarbeiters bringe das Fass dann zum Überlaufen (Fig. 1). Nur mit einer umfassenden und systematischen Untersuchung des Unfalls, bei der alle Glieder der Kette einbezogen werden, lasse sich das System wirklich verbessern. Als Unterstützung dabei stellt die Suva das Dokument 66100 «Protokoll für die betriebsinterne Unfallabklärung» zur Verfügung.
Ratzer stellte weiter Zeitreihen und Auswertungen der Unfallstatistiken für die Branchen der ASA-Branchenlösung BL31 «Gas- und Wasserversorgungen» respektive der Suva-Versicherungsklasse 55A «Energieerzeugung und -versorgung» vor. Erfreulicherweise sei bei der Anzahl Unfälle im Zeitraum von 2013 bis 2022 eine leicht sinkende Tendenz zu erkennen. Auch bei den Fällen mit Taggeld sei eine leichte Abnahme zu beobachten, was darauf hindeutet, dass es tendenziell immer weniger schwere Unfälle gibt. Ratzer schlussfolgerte: «Die Branche ist bereits sehr gut unterwegs. Daher wird der Aufwand für weitere Verbesserungen grösser.»
Beim Unfallhergang steht ganz klar Aus-/Abgleiten bzw. Ausrutschen im Vordergrund, vor allem was die schweren Unfälle betrifft. Die beim Unfall ausgeübten Tätigkeiten gehören an erster Stelle zur Kategorie «Arbeiten von Hand mit/ohne Werkzeuge und Geräte». Allerdings werde in den Unfallmeldungen meist «Unbekannte oder übrige Tätigkeit» angekreuzt, vielleicht weil es lästig ist, Formulare auszufüllen, wie Ratzer vermutete. Er warb dafür, bei Unfallmeldungen genauere Angaben zu machen, denn nur so könnten aussagekräftige Statistiken erhalten werden, aus denen sich Ansatzpunkte für Verbesserungen ableiten liessen.
Ratzer ging ausserdem auf Auswertungen für den einzelnen Betrieb ein, worüber sich dieser mit dem Branchendurchschnitt vergleichen könne. Unter diesen Auswertungen sei insbesondere eine Übersicht der Fälle, aufgeschlüsselt nach verletztem Körperteil, zu finden. Auf dieser Grundlage könnten Schwerpunkte für die Prävention festgelegt werden. Prävention sei für den einzelnen Betrieb auch finanziell interessant, denn dadurch liessen sich die Unfallzahlen reduzieren, was wiederum niedrigere Prämienzahlungen an die Suva nach sich ziehe.
Zum Abschluss seiner Ausführungen ging Thomas Ratzer auf den diesjährigen Schwerpunkt der Suva bei Vollzugsbesuchen ein: Chemikalien im Betrieb. Meist seien mehr gesundheitsgefährdende Chemikalien im Betrieb vorhanden, als bekannt sei. Umso wichtiger sei es, sich einen Überblick über die im Betrieb verwendeten Stoffe und Zubereitungen zu verschaffen und die besonders gefährlichen Chemikalien zu identifizieren. Dabei helfe die Suva-Checkliste 67204 «Chemikalienliste des Betriebs/Betriebsteils der Firma». Basierend auf dieser Übersicht, sollten in einem zweiten Schritt geeignete und wirksame Massnahmen für einen sicheren Umgang definiert werden.
Auch das Staatssekretariat fĂĽr Wirtschaft (Seco) hat das Thema «Gesundheitsschutz und Chemikalien am Arbeitsplatz» als aktuellen Schwerpunkt definiert, um so den kantonalen Vollzug in diesem Bereich zu unterstĂĽtzen. Gemäss den Bundesgesetzen ĂĽber die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG), ĂĽber den Schutz vor gefährlichen Stoffen und Zubereitungen (Chemikaliengesetz, ChemG) sowie ĂĽber die Unfallversicherung (UVG) obliegt den Unternehmen eine Sorgfaltspflicht, d. h., jeder Betrieb, der mit Chemikalien umgeht, muss die verwendeten Produkte und ihre Gefährdungen kennen und alle erforderlichen Massnahmen treffen, damit die Gesundheit der Mitarbeitenden geschĂĽtzt ist (Fig. 2). Zur UnterstĂĽtzung von KMU bei dieser Aufgabe wurde vom Bund das kostenlose Online-Tool SICHEM (SIcherer Umgang mit CHEMikalien; ) entwickelt. Der Fachverantwortliche beim Seco fĂĽr dieses Tool, Bojan Gasic, präsentierte SICHEM und dessen Elemente. Im Einzelnen hilft ÂSICHEM Versorgungsunternehmen dabei:
FĂĽr das FĂĽhren der gesetzlich geforderten Chemikalienliste, insbesondere bei einer grossen Vielfalt an Chemikalien im Betrieb, ist das Tool gut geeignet. Aktuell lassen sich mit SICHEM:
Von Vorteil ist, dass SICHEM direkt mit dem Schweizer Produkteregister Chemikalien verknüpft ist. So lassen sich die Chemikalienlisten einfach erstellen und sie werden auch automatisch aktualisiert. SICHEM zeigt zu jedem Produkt auf der Liste alle sicherheits- und gesundheitsrelevanten Informationen an. Das Tool werde, so Bojan Gasic, laufend und praxistauglich weiterentwickelt. Es ist vorgesehen, es um folgende Möglichkeiten und Informationen zu erweitern:
Matthias Freiburghaus, Fachspezialist Wasser beim SVGW, gab einen Ăśberblick ĂĽber die Chemikalien, die in der Wasserversorgung typischerweise zur Anwendung kommen, samt den von ihnen ausgehenden Gefahren:
Für den sicheren Umgang mit solchen Chemikalien braucht es eine geeignete persönliche Schutzausrüstung (PSA), vor allem Chemie-Schutzhandschuhe und eine Schutzbrille mit Kontur-/Seitenschutz. Auch sollten am Arbeitsplatz eine Augendusche oder ähnliche Spülmöglichkeiten vorhanden sein. Darüber hinaus sind Chemikalien korrekt zu kennzeichnen: Wegen der Verwechslungsgefahr dürfen Chemikalien keinesfalls in Getränkeflaschen aufbewahrt und abgefüllte Gebinde müssen eindeutig gekennzeichnet werden. Zur sicheren Lagerung nannte Freiburghaus folgende Punkte:
Wichtig seien auch Information und InÂstruktion der Mitarbeitenden zum sicheren Umgang mit Chemikalien, wie Freiburghaus weiter ausfĂĽhrte. Dazu gehöre vor allem:
Weitergehende Informationen zum Âsicheren Umgang sind im SVGW/VSE-ÂSicherheitshandbuch zu finden, und zwar im Teil A in den Abschnitten «Gefährliche Stoffe» und «AusrĂĽstung und Körperschutz». Freiburghaus verwies zusätzlich auf zwei Dokumente der Suva zum Thema: ÂPublikation 11030 «Gefährliche Stoffe – Was man darĂĽber wissen muss» und Factsheet 33107 «Sicherer Umgang mit Chemikalien».
Müssen Gasleitungen entleert werden, so stehen derzeit drei Möglichkeiten zur Verfügung: Ablassen des Gases in die Atmosphäre (Ausblasen), Verbrennen des Gases (Abfackeln) oder Umpumpen des Gases. Aus sicherheitstechnischen wie auch aus Klima- und Umweltschutzgründen ist gemäss SVGW-Richtlinie G2 für Rohrleitungen das Abfackeln dem Ausblasen vorzuziehen. Im Kapitel 4 «In- und Ausserbetriebnahmen» Abschnitt 4.3 «Prozesse im Druckbereich p < 5 bar» des SVGW/VSE-Sicherheitshandbuchs wird das sichere Abfackeln beschrieben. Dies ist die Grundlage für das Vorgehen von AIL beim Abfackeln, wie Daniele Grespi von den Aziende Industriali di Lugano (AIL) ausführte. Von den erforderlichen Vorbereitungsarbeiten (Fig. 3) hob er zwei als besonders wichtig hervor: Überprüfen der Wetterbedingungen (vor allem Wind stellt ein Sicherheitsrisiko dar) und die Leckagekontrolle vor der Zündung mithilfe eines Messgeräts.
Thomas Krohse (Krohse GmbH) nannte in seinem Referat über aktuelle Entwicklungen in der Technik des Abfackelns, seinen Vorredner ergänzend, folgende acht Grundregeln, die beim Verbrennen von Restgasmengen zu beachten sind:
Ăśberdies stellte Krohse die AbfackelÂgeräte seiner Firma vor (Fig. 4).
Seit 2019 mache die Energie 360° AG erste Schritte hin zur Technik des Umpumpens von Gas, weil damit die Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Abfackeln weiter reduziert werden könnten, wie Kay Kemmerer vom ZĂĽrcher Gasversorger Âberichtete. Auch sei in dicht besiedelten Gebieten das Abfackeln bisweilen schwer umsetzbar. Beim Umpumpen werde das Gas aus dem zu leerenden Leitungsabschnitt nicht abgesaugt, sondern vielmehr durch den mit einem Verdichter erzeugten Ăśberdruck (5,6–5,8 bar) in eine andere Leitung ĂĽberfĂĽhrt.
Als Praxisbeispiel aus dem Bereich Rohrleitungsbau erläuterte Erich Duss von der Wasserversorgung Oberägeri die unsichtÂbaren Gefahren, die von Widerlagern bei Wasserleitungen, vor allem bei deren Entfernung, ausgehen können. Betonwiderlager werden eingesetzt, um axiale Kräfte aufzufangen, als Absenkschutz den Boden zu verstärken, Abscherungen zu verhindern oder durch das Eigengewicht vorliegende Kräfte zu entlasten. Axiale Kräfte treten im unter Druck stehenden Trinkwassernetz bei Bögen, T-StĂĽcken, Etagen, Reduktionen, Endkappen und Absperrarmaturen auf. An solchen Stellen können nicht längskraftschlĂĽssige Verbindungen beim Freilegen der Leitung aufgehen (Wasseraustritt unter Netzdruck, Flutung des Grabens). Um die Arbeitssicherheit zu gewährleisten, mĂĽssen vor dem Entfernen eines Widerlagers folgende Fragen beantwortet werden: Warum wurde das Widerlager erstellt? Sind die Kräfte noch vorhanden? Wenn ja, was kann passieren? Wie mĂĽssen die Kräfte aufgefangen werden? Welche Massnahmen sind zu treffen? Duss wies zudem darauf hin, dass auch Ăśbergangslösungen und Provisorien jederzeit sicher sein mĂĽssen.
Die Unfallstatistik zusammen mit den Konsequenzen von Unfällen, gleichgĂĽltig ob Berufsunfall oder Nichtberufsunfall, die daraus fĂĽr einen Betrieb entstehen, machen schnell klar, waÂrum es sich fĂĽr Arbeitgeber lohnt, sich auch in der Prävention von Freizeitunfällen zu engagieren: Zwei von drei Mitarbeitenden, die unfallbedingt am Arbeitsplatz fehlen, verunfallten in der Freizeit. Die Beratungsstelle fĂĽr UnfallverhĂĽtung (bfu) unterstĂĽtzt Unternehmen bei der Präventionsarbeit, d. h. beim Analysieren, Sensibilisieren, Informieren und Motivieren, wie ÂJeanette Jufer (bfu-Beraterin fĂĽr Unternehmen) ausfĂĽhrte. Die bfu bietet ein ganzes Paket zur Prävention von Nichtberufsunfällen: Präventions-Workshops, Kurse, verschiedene Einsatzmittel und sofort einsetzbare Kommunikationsmittel. Sogenannte SafetyKits, die ein Plakat im Format A3, Flyer mit Präventionstipps und einer Ăśberraschung, eine PowerPoint-Präsentation sowie ein Kurzvideo enthalten, gibt es fĂĽr verschiedene Themen in den Bereichen «Strasse & Verkehr», «Sport & Bewegung» und «Haus & Garten».
Das Schweizer Arbeitsgesetz fordert, dass eine schwangere Frau oder stillende Mutter so zu beschäftigen ist und die Arbeitsbedingungen so zu gestalten sind, dass weder ihre Gesundheit noch die des Kindes beeinträchtigt wird. Konkretisiert wird diese Vorgabe im Artikel 63 der Verordnung 1 des Arbeitsgesetzes.Demnach muss jeder Betrieb mit gefährlichen und/oder beschwerlichen Arbeiten für Mutter und Kind eine Risikobeurteilung durch eine fachlich kompetente Person vornehmen. Die Umsetzung der Regelungen zum Mutterschutz ist ein wichtiges Thema für alle Unternehmen, hob der Arbeitsmediziner Steffen Geiger (azb – arbeitsmedizinisches Zentrum Basel) in seinem Vortrag «Wissenswertes zur Mutterschutzverordnung und Nachtarbeitsuntersuchung» hervor: Die Umsetzung sei ein Must und nicht «nice to have». Mutterschutz diene dem Gesundheitsschutz der gesamten Belegschaft.
Auch die medizinische Untersuchung und Beratung bei Nachtarbeit («Seco-Untersuchung») ist gesetzlich klar geregelt, so Geiger. Es müsse zwar zwischen Anspruch und Obligatorium unterschieden werden, doch bei Vorhandensein besonderer Belastungen und Gefahren (gemäss EKAS-Richtlinie 6508 über den Beizug von Arbeitsärzten und anderen Spezialisten der Arbeitssicherheit) sei die Untersuchung grundsätzlich obligatorisch.
Im abschliessenden Referat stellten Michael Schneiter und Karsten Reichart die Branchenlösung 31 des SVGW und das dazugehörige Dienstleistungsangebot vor: Diese umfasst drei Elemente, nämlich GW15001 Branchenlösung «Sicherheit und Gesundheitsschutz bei den Wasser- und Gasversorgungen», GW15001 Leitfaden zur Umsetzung der Branchenlösung und das Sicherheitshandbuch. Sie sind in dieser Reihenfolge primär an Geschäftsleitung, Sicherheitsbeauftragte und Ausführende gerichtet. Im Leitfaden GW15001 sind die 10 Punkte des ASA-Konzepts aufgeführt. Zu jedem Punkt wird kurz beschrieben, was zu tun ist. Der SVGW unterstützt die Werke bei der Umsetzung der Branchenlösung mit zwei Angeboten: ASA-Systemberatung und Systemaudit.
Bei der Systemberatung geht es um Aufbau bzw. WeiterÂentwicklung des Sicherheitssystems gemäss der ASA-10-ÂPunkte-Systematik. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Gefahrenermittlung und die Massnahmenplanung fĂĽr werkspezifische Tätigkeiten gelegt. Auch im Bereich Digitalisierung soll es UnterstĂĽtzung geben: bei der Auswahl einer geeigneten Arbeitssicherheitssoftware und/oder bei der Integration der Branchenlösung in bestehende oder neue Applikationen.
Im Rahmen des Systemaudits wird das betriebsinterne Sicherheitssystem gemäss Branchenlösung GW15001 anhand eines vordefinierten Fragenkatalogs beurteilt. Das Audit wird vor Ort in Begleitung der oder des Sicherheitsbeauftragten durchgeführt. Die Ergebnisse werden in einem Auditbericht mit Handlungsempfehlungen bzw. Hinweisen zur Verbesserung des Sicherheitssystems zusammengefasst.
Karsten Reichart (Organisator der Fachtagung): k.reichart@svgw.ch
«AQUA & GAS» gibt es auch als E-Paper. Abonnenten, SVGW- und/oder VSA-Mitglieder haben Zugang zu allen Ausgaben von A&G.
Den «Wasserspiegel» gibt es auch als E-Paper. Im SVGW-Shop sind sämtliche bisher erschienenen Ausgaben frei zugänglich.
Kommentare (0)