Die Fähigkeit, Dinge zu kategorisieren und in Gruppen zu ordnen, hat evolutionär massgeblich zum Überleben unsere Spezies beigetragen. Sieht etwas aus wie ein Löwe, dann lautet die Devise: renn weg! Sieht etwas aus wie ein Stuhl, heisst es: setz dich drauf! Wir sind in der Lage einen Stuhl zu erkennen, egal ob er drei, vier oder gar nur ein Bein hat. Mit und ohne Arm- oder Rückenlehne, gepolstert oder geflochten, aus Holz, Metall oder Kunststoff – wir erkennen in der Regel auf einen Blick, dass wir es mit einem Möbelstück der Kategorie «Stuhl» zu tun haben. Schwierig wird es, wenn der Stuhl einem Löwen ähnelt. Der erste Impuls, die Flucht zu ergreifen, erweist sich dann erst bei genauerem Hinsehen als unnötig.
Seit der Zeit, als sich der Homo Sapiens als Jäger und Sammler vor Löwen in Acht nehmen und auf gepolsterte Stühle verzichten musste, ist die Welt nicht weniger komplex geworden. Vieles lässt sich eben nicht auf einen Blick erkennen. Vielmehr ist genaueres Hinsehen notwendig. In einem lesenswerten Interview hat sich der Meteorologe Jörg Kachelmann jüngst darüber beschwert, dass die Medien Extremwetterphänomene wie jenes in La Chaux-de-Fonds oder die Waldbrände auf Rhodos rasch und unkritisch in den Kontext des Klimawandels setzen. Dabei hätten diese Ereignisse oft nur indirekt mit der Erderwärmung zu tun, da beispielsweise ohne eine Zündquelle Waldbrände erst ab einer Temperatur von 300 Grad spontan entstehen. Hingegen würden die wirklich dramatischen Entwicklungen, wie die Erwärmung der Meere, die eindeutig eine direkte Folge des Klimawandels sind, gar nicht thematisiert.
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Ähnlich verhält es sich mit der «Wasserknappheit» in der Schweiz. Auf die Sommermonate hin, wird das Thema zuverlässig von den Medien aufgenommen und meistens ebenfalls in den Kontext des Klimawandels gesetzt. Natürlich kann Wasser knapp werden, weil aufgrund von wenig Niederschlag zu wenig Grundwasser vorhanden ist. Bei genauerem Hinsehen sind jedoch oft andere Faktoren dafür verantwortlich, dass die Bevölkerung zum Wassersparen aufgerufen werden muss, z.B. weil immer mehr Fassungen zu hohe Pestizidrückstände aufweisen oder die Wasserversorgung nicht auf einen Zusatzbedarf der Landwirtschaft ausgerichtet ist. Es ist aber einfacher, ein Thema zu vermitteln, wenn man es einer bereits bekannten Kategorie zuordnen kann.
Mit diesem Trick der «Zuspitzung» erübrigt sich dann die komplexe Erklärung von Zusammenhängen und die richtige Einordnung. Trockenheit als Folge des Klimawandels muss nicht weiter erklärt werden. Bestenfalls wird damit auf eine aktuelle Herausforderung aufmerksam gemacht, schlimmstenfalls werden Fehlentscheide getroffen und Prioritäten falsch gesetzt. Es ist nicht so tragisch, wenn wir einen Stuhl für einen Löwen halten. Umgekehrt eventuell schon.
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