In der Uno-Klimakonferenz in Paris im Dezember 2015 wurde von den Staaten dieser Welt vereinbart, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf weniger als zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Dafür muss der menschenverursachte Ausstoss von Treibhausgasen, insbesondere Kohlenstoffdioxid (CO2), weltweit drastisch gesenkt werden. In diesem Kontext hat die Europäische Union sich das ambitionierte Ziel gesetzt, den eigenen Treibhausgasausstoss bis zum Jahr 2050 um 80 bis 95% gegenüber 1990 zu senken. Ein Bündel von Massnahmen und Gesetzen, wie zum Beispiel das Clean Energy Package, das insbesondere den Energiesektor betrifft, wurde zu diesem Zweck bereits auf den Weg gebracht. Zusätzlich verabschieden mehrere Regierungen auf Ebene der EU-Mitgliedsstaaten eigene nationale Klimaschutzprogramme.
Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied beabsichtigt im Zuge einer zurzeit entwickelten, langfristigen Klimastrategie sogar eine «Netto-Null-Emissionsbilanz». Es ist jedoch klar, dass eine Emissionsreduzierung allein im Energiesektor nicht ausreichend ist und stattdessen eine konzertierte Strategie über alle Bereiche hinweg verfolgt werden muss, was eine zunehmende Vernetzung der verschiedenen Sektoren zur Folge hat. Man spricht hierbei von Sektorkopplung. Tatsächlich müssen überall in Europa die Sektoren Wärmeversorgung, Stromerzeugung, Verkehr und Industrie bis 2050 nahezu vollständig dekarbonisiert werden, damit die ehrgeizigen Ziele erreicht werden können. Dies bedeutet eine fundamentale Transformation des gegenwärtigen Energiesystems.
Vor diesem Hintergrund untersucht die Studie The Value of Gas Infrastructure in a Climate-Neutral Europe – A Study based on eight European countries von Frontier Economics und IAEW, welche Rolle die Gasinfrastruktur auf dem Weg zu einem klimaneutralen Europa spielen kann. Die Studie analysiert die Situation und die Herausforderungen in acht europäischen Ländern: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweiz, Schweden und Tschechische Republik. Weiter berechnet sie die gesamtwirtschaftlichen Kosteneinsparungen, die bei der Transformation des Energiesystems durch eine Weiternutzung der Gasinfrastruktur erzielt werden können. Dabei werden zwei Szenarien für ein dekarbonisiertes Energiesystem gegenübergestellt, die sich im Wesentlichen bezüglich der Frage unterscheiden, inwieweit das bestehende Gasnetzwerk langfristig für den Transport von erneuerbar erzeugtem Gas zu den Endverbrauchern genutzt wird oder nicht. Die Analyse umfasst alle im Energiesystem relevanten Sektoren und alle Stufen der energiewirtschaftlichen Wertschöpfungskette, von der Energieerzeugung über die Umwandlung, den Transport und die Speicherung bis hin zum Verbrauch. Im Zuge der anvisierten vollständigen Dekarbonisierung werden verschiedene erneuerbare und sogenannte Low-Carbon-Gase sowie unterschiedliche Produktionsmöglichkeiten und -verfahren berücksichtigt. Dadurch wird den spezifischen Gegebenheiten und Besonderheiten der untersuchten Länder Rechnung getragen. Welche Herausforderungen im Zuge der Klimaschutzbemühungen im Speziellen auf die Schweiz zukommen und inwieweit die Gasinfrastruktur eine Rolle auf dem Weg zu einem emissionsfreien Wirtschaftssystem spielen kann, soll im Folgenden diskutiert werden.
Als vergleichsweise kleines Land in einer klimasensiblen Gebirgsregion hat die Schweiz ein spezielles Interesse daran, dass die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft zur Begrenzung der Klimaerwärmung vorangetrieben werden. Als eigenen Beitrag hat sich die Schweiz verbindlich verpflichtet, den Ausstoss von Treibhausgasen gegenüber dem Basisjahr 1990 bis 2030 zu halbieren. Darüber hinaus hat der Bundesrat im August 2019 das bisherige Klimaziel für das Jahr 2050 verschärft: Statt einer 70–85%igen Emissionsreduzierung soll eine Netto-Null bei der Klimabilanz erzielt werden [1]. Wie in allen Industriestaaten, so gilt auch in der Schweiz, dass eine drastische Senkung der Treibhausgasemissionen nur dadurch erreicht werden kann, dass alle Sektoren ihren Reduktionsbeitrag leisten; mit der Einschränkung, dass gewisse Mengen nichtenergiebedingter Emissionen in der Landwirtschaft und in der Industrie praktisch nicht zu vermeiden sind. Ein erstes Massnahmenpaket wurde mit der Energiestrategie 2050 bereits auf den Weg gebracht. Neben einer Steigerung der Energieeffizienz in allen Bereichen zur Verringerung des Energieverbrauchs soll die inländische Produktion von erneuerbarer Energie massiv ausgebaut werden. Jedoch stehen den Vorhaben in der Schweiz einige Herausforderungen und Probleme entgegen, die teilweise auch in anderen Ländern zu beobachten sind.
Ein möglicher Pfad hin zu einer klimaneutralen Schweiz wäre eine nahezu vollständige Elektrifizierung des Energiesystems, in dem Strom ausschliesslich aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt wird und Endverbraucher primär elektrische Endanwendungen wie elektrische Wärmepumpen und Elektroautos nutzen würden. Gegenwärtig werden unter 25% der Endenergienachfrage von Strom gedeckt, was einem Stromverbrauch von knapp 58 TWh jährlich entspricht. Die übrigen 75% des Endenergieverbrauchs zu elektrifizieren, würde zu einem enormen zusätzlichen Strombedarf führen, selbst unter der Annahme von verbesserten Energieeffizienzen. Durch den beschlossenen Kernenergieausstieg der Schweiz (Bewilligungsverbot neuer Kernkraftwerke) wird der Bedarf an zusätzlichen Stromerzeugungskapazitäten noch weiter steigen, wenn die jährlich etwa 20 TWh Strom aus den vier Schweizer Kernenergiereaktoren ersetzt werden müssen. Diesen Mehrbedarf alleine durch den Ausbau der einheimischen regenerativen Stromerzeugung zu befriedigen, dürfte aus heutiger Sicht ausgeschlossen sein. Zwar beträgt der Anteil erneuerbarer Energien am Schweizer Stromverbrauch bereits heute über 60% (was ungefähr 40 TWh entspricht). Ein Grossteil davon wird jedoch von Grosswasserkraftwerken produziert, deren Zubaupotenzial nahezu ausgeschöpft ist. Der Anteil des Stroms, der aus Biomasse-, Solar- und Windenergie stammt, beträgt derzeit ca. 5%. Aufgrund der schwierigen geografischen Gegebenheiten in der Schweiz ist das zusätzliche Potenzial auch dieser Energien sehr begrenzt. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2050, zusätzlich zu den heutigen knapp 40 TWh regenerativen Stroms, insgesamt weitere 32 TWh produziert werden könnten, Wasserkraft eingeschlossen [2]. Etwa die Hälfte des zusätzlichen Ausbaupotenzials entfällt dabei auf die Photovoltaik (PV).
Gleichzeitig bringt die Photovoltaik die Eigenschaft mit sich, dass die erzeugten Strommengen sowohl im Tages- als auch im Jahresverlauf enorm schwanken, da PV-Anlagen nur bei entsprechender Sonneneinstrahlung relevante Mengen an Elektrizität produzieren. So ist die Stromproduktion aus Photovoltaik in den dunklen Wintermonaten wesentlich geringer als in den Frühlings- und Sommermonaten.
Auch bei Wind- und Laufwasserkraftanlagen hängt die Höhe der Stromeinspeisung von den äusseren Bedingungen (Windstärke, Niederschlag und Schneeschmelze) ab und steht dadurch nicht jederzeit verlässlich zur Verfügung und ist somit nur bedingt planbar. Zum Erhalt der Versorgungssicherheit wären im Fall einer umfassenden Elektrifizierung von Energieverbrauchern (besonders im Wärme- und Mobilitätssektor) grosse zusätzliche Energiespeicherkapazitäten vonnöten, um in Zeiten hoher Einspeisemengen den überschüssigen Strom zu speichern, damit er in Phasen geringerer Einspeisung wieder abgegeben werden kann. Als Alpenland verfügt die Schweiz zwar über vergleichsweise grosse Wasserspeicher-Kraftwerkskapazitäten, die bereits heute zum Zweck der Energiespeicherung eingesetzt werden. Jedoch ist das Potenzial hier weitestgehend ausgeschöpft. Sonstige Lösungen zur wirtschaftlichen Speicherung grösserer Mengen Elektrizität sind derzeit nicht in Sicht.
Eine Dekarbonisierungsstrategie, die schwerpunktmässig auf flächendeckende Elektrifizierung setzt, würde neben einer deutlichen Steigerung der Gesamtnachfrage nach Strom ausserdem auch eine gewaltige Zunahme der Spitzenlast zu bestimmten Zeiten zur Folge haben, denn in der Schweiz herrscht eine ausgeprägte Saisonalität der Wärmenachfrage. Bisher wird der Grossteil der Gebäude in der Schweiz über Erdgas und Heizöl mit Raumwärme und Warmwasser versorgt, während Elektrizität bislang kaum zur Wärmeversorgung eingesetzt wird. Daher ist das Verbrauchsprofil von Strom im Jahresverlauf bislang vergleichsweise flach.
Ein Austausch dieser Heizsysteme durch elektrische Wärmepumpen und Stromheizungen hätte trotz der verbesserten Energieeffizienz einen enormen zusätzlichen Strombedarf in der kalten Jahreszeit zur Folge. Eine Elektrifizierung der Wärmeversorgung würde also die Saisonalität in den Stromsektor importieren. Auch in dieser Hinsicht erweisen sich die begrenzten Stromspeichermöglichkeiten als problematisch. Nur durch den Import von Elektrizität aus den Nachbarländern liesse sich – Speicher- oder Erzeugungsmöglichkeiten in den Nachbarländern vorausgesetzt – eine ausreichende Energieversorgung im Winter bewerkstelligen. Diese Importabhängigkeit stellt daher ein potenzielles Risiko für die Versorgungssicherheit in der Schweiz dar.
Eine weitere Voraussetzung für eine tief greifende Elektrifizierung ist der Ausbau der Stromtransportkapazitäten. Im Mittelland sind bereits einige Netzausbauprojekte auf den Weg gebracht worden, um die durch die stetig zunehmenden Stromflüsse vom Norden in den Süden erzeugten Engpässe zu beseitigen. Auch die Kapazität des Übertragungsnetzes zwischen den Orten Chippis und Lavorgo soll erhöht werden. Im Nordwesten und im Osten der Schweiz kommt es regelmässig zu lokalen Überlastungen des Stromnetzes. Die aktuellen Ausbauvorhaben des Übertragungsnetzes summieren sich auf eine Länge von 525 km, was 8% der gesamten Übertragungsnetzlänge in der Schweiz entspricht.
Mit steigendem Elektrifizierungsgrad wird der Bedarf an zusätzlichen Kapazitäten auch auf Verteilnetzebene weiterwachsen. Kleinere, dezentrale Erzeugungsanlagen für Strom aus Sonne, Wind und Biomasse machen vielerorts eine Restrukturierung der Verteilnetze notwendig, die historisch gesehen den Stromverbrauchern entsprechend dimensioniert wurden und somit nicht auf zeitweise sehr hohe Netzeinspeisungen ausgelegt sind. Daneben müssen die Verteilnetze zukünftig auch die zusätzliche Last durch Elektromobilität und elektrische Wärmesysteme bewältigen können. Ebenso ist ein Ausbau der grenzüberschreitenden Transportkapazitäten unvermeidlich, wenn der winterliche Wärmebedarf auch durch Importe gedeckt werden soll. Häufig finden grössere Ausbauvorhaben jedoch nur wenig öffentliche Akzeptanz und stossen regelmässig auf Widerstand in der lokalen Bevölkerung. Es ist nicht davon auszugehen, dass mit zunehmendem Kapazitätsbedarf der Widerstand in der Bevölkerung geringer wird.
Die Gasinfrastruktur in der Schweiz kann einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der erwähnten Herausforderungen bei der Dekarbonisierung des Energiesystems leisten.
Seit der Anbindung an das europäische Gastransportnetz in den 1970er-Jahren ist der Anteil von Gas bei der Versorgung der Schweizer Endenergienachfrage beständig gewachsen, von 1,6% im Jahr 1976 auf 14% im Jahr 2017. Erdgas wird in der Schweiz hauptsächlich zur Wärmeerzeugung in Haushalten, im Gewerbe und in der Industrie genutzt. Die Schweiz verfügt über ein ausgedehntes Gasnetzwerk, das ca. 2350 Schweizer Gemeinden, mit einem Anteil von 70% an der Gesamtbevölkerung, mit Erdgas versorgt [3]. Das Gasnetz spannt sich über nahezu das gesamte flachere Mittelland, von Genf im äussersten Westen über die grösseren Städte Lausanne, Bern, Basel und Zürich bis hin nach St. Gallen im Nordosten. Die Gesamtlänge des Schweizer Gasnetzes beträgt etwa 19 500 km [4]. Die bestehende Gasinfrastruktur kann ohne grössere Anstrengungen auf den Einsatz von erneuerbaren und Low-Carbon-Gasen angepasst werden.
Um den saisonal schwankenden Wärmebedarf in der Schweiz zu befriedigen, werden grosse Mengen an Speicherkapazitäten für Energie benötigt. Der Energieträger Gas mitsamt der dazugehörigen Infrastruktur ist zur Speicherung von Energie prädestiniert und wird in Europa schon lange zu diesem Zweck genutzt. Das Schweizer Gasnetz kann grundsätzlich bereits über Anpassungen des Drucks gewisse Mengen an Gas in den Pipelines selbst vorhalten (sogenanntes Linepack). Zwar verfügt die Schweiz ansonsten über keine eigens ausgewiesenen Gasspeicheranlagen im Inland. Jedoch existiert eine vertragliche Vereinbarung zur exklusiven Nutzung eines Untergrundgasspeichers in Etrez in Frankreich mit einer Kapazität von 1500 GWh, die zur saisonalen und strategischen Vorhaltung von Gas in Anspruch genommen werden kann. Darüber hinaus erlauben die grenzüberschreitenden Gasverbindungen mit den Nachbarländern den Zugang zu weiteren bedeutenden Speicherkapazitäten. Zudem gibt es Pilotprojekte im Kanton Wallis zur Erschliessung von potenziellen Untergrundspeichern innerhalb der eigenen Grenzen.
Aufgrund der zentralen Lage in Europa ist die Schweiz bestens angebunden an das europäische Gasnetz. Die internationalen Gas-Pipelines Transitgas und TENP verbinden die Schweiz mit Deutschland, Italien und sogar den Niederlanden. Die Schweiz verfügt über 16 Grenzübergangspunkte, wovon die Mehrheit reine Einspeisepunkte sind. Zu den vier Nachbarländern Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich bestehen Importkapazitäten in Höhe von insgesamt 34 GW. Dies übertrifft die Importkapazität von Strom (9 GW) aus diesen Ländern um nahezu das Vierfache. Die Transitpipelines werden derzeit umgerüstet, um auch eine Umkehrung der Fliessrichtung zu ermöglichen.
Die Gasinfrastruktur ist dazu geeignet, eine Vielzahl unterschiedlicher Gase zu transportieren, die in einem zukünftigen klimaneutralen Energiesystem eine Rolle spielen können. Langfristig wird in der Schweiz folgenden Gasen eine Bedeutung zugemessen:
Biomethan stellt ein natürliches erneuerbares Gas dar, das durch die Aufbereitung von Biogas auf Erdgasqualität produziert wird und ohne Weiteres bereits heute in das Gasnetz eingespeist werden kann. Biogas wiederum entsteht durch die Vergärung von Biomasse in Form von Abfällen oder Pflanzenteilen in speziellen Biogasanlagen. 2016 wurden in der Schweiz 277 GWh Biomethan erzeugt, während weitere 200 GWh überwiegend aus Deutschland importiert wurden [5].
Mittels Wasserelektrolyse lässt sich unter dem Einsatz von Strom Wasserstoff herstellen. Wird dieser auf Basis regenerativ erzeugten Stroms erzeugt, spricht man von erneuerbarem Wasserstoff (oder auch «grünem Wasserstoff»). Der Wasserstoff kann optional durch nachgeschaltete Methanisierung zu synthetischem Methan umgewandelt werden. Wurde der bei der Methanisierung benötigte Kohlenstoff zuvor der Atmosphäre entnommen, gilt auf diese Weise erzeugtes synthetisches Methan ebenfalls als erneuerbares Gas. In Phasen, in denen die Stromproduktion aus erneuerbarer Energie die Nachfrage übertrifft, könnte überschüssiger Strom auf diese Weise in Gas umgewandelt werden (Power-to-Gas). Dies würde nicht nur die sonst abgeregelte Energie in eine speicherbare Form überführen, sondern auch das Stromnetz entlasten.
Ein etabliertes, konventionelles Verfahren, um Wasserstoff herzustellen, ist die Dampfreformierung von Erdgas. Wird das dabei entstehende Kohlendioxid nicht in die Atmosphäre entlassen, sondern abgeschieden, gespeichert und gegebenenfalls weitergenutzt (CCS/CCU: Carbon Capture and Storage/Utilization), spricht man bei dieser Produktionsmethode von «blauem Wasserstoff». Die Schweiz verfügt sowohl über bislang unerschlossene Erdgasvorkommen in tief liegenden Tongesteinen als auch über potenzielle Lagerstätten zur Speicherung von abgeschiedenem Kohlenstoffdioxid. Politische Erwägungen machen die Erschliessung dieser Potenziale momentan schwierig. Heimisch produzierter blauer Wasserstoff bleibt jedoch eine Option für die Zukunft.
Nichtsdestotrotz sind die Potenziale zur Herstellung von erneuerbaren Gasen innerhalb der Schweiz in ihrem Umfang limitiert. Vor dem Hintergrund der besonderen Topografie des Landes erscheinen sowohl der Aufbau einer substanziellen Power-to-Gas-Infrastruktur als auch eine massive Ausweitung der heimischen Biomethan-Produktion unwahrscheinlich. Die grossen vorhandenen Importkapazitäten bieten jedoch Möglichkeiten, das Angebot an erneuerbaren Gasen zu diversifizieren. Auf lange Sicht kann Biomethan z. B. aus den Nachbarländern Frankreich und Italien, die über ein wesentlich grösseres Biomassepotenzial verfügen als die Schweiz, eingeführt werden. Aus den sonnenreichen Regionen Südeuropas und Nordafrikas könnten in Zukunft Lieferungen von günstig hergestelltem «grünem Wasserstoff» oder synthetischem Methan erfolgen. Auch der Import von «blauem Wasserstoff» aus den erdgasfördernden Ländern Norwegen oder Russland kann eine Alternative bieten. Ein solch diversifiziertes Importportfolio, das im Elektrizitätsbereich nicht erreicht werden kann, reduziert die Energiebeschaffungskosten und verbessert die Versorgungssicherheit.
Erdgas wird in der Schweiz hauptsächlich zur Wärmeversorgung in Gebäuden eingesetzt. Knapp 26% des Endenergieverbrauchs zur Erzeugung von Raumwärme und Warmwasser werden durch Gas abgedeckt. Der Hauptenergieträger für Heizungen ist Heizöl (41%), während Elektrizität auf 10% und Fernwärme auf knapp 5% kommen. Die Gasinfrastruktur ist grundsätzlich dafür ausgelegt worden, die beträchtliche Saisonalität der Gasnachfrage zu bewältigen. Eine weitestgehende Elektrifizierung des Wärmesektors würde eine Übertragung der saisonalen Wärmenachfrage in den Stromsektor bedeuten, der bisher eine deutlich weniger ausgeprägte jahreszeitliche Schwankungsbreite aufweist. Die resultierende Last in den Wintermonaten abzudecken, würde das gesamte Stromsystem vor eine ausserordentliche Aufgabe stellen. Es existieren daher gute Argumente, die Wärmeversorgung durch Gas aufrechtzuerhalten und nach Möglichkeit sogar auszubauen. In Gegenden mit vorhandenen Gasleitungen sollten Gebäude, die bisher mit Heizöl versorgt werden, an das Gasnetz angeschlossen werden. Damit würde nicht nur das Gasnetzwerk verdichtet und somit kosteneffizienter werden. Es würde gleichzeitig die vom Stromsektor abzudeckende Spitzenlast im Rahmen gehalten. Eine weitere Möglichkeit stellt die Entwicklung von Mikro-Kraftwärmekopplungsanlagen dar, die mit Gas betrieben und optional mit einer elektrischen Wärmepumpe kombiniert werden könnten. Für bislang ölabhängige Haushalte in eher abgelegenen Gegenden oder für neu errichtete Gebäude könnte eine Versorgung mit CNG oder LNG (Erdgas oder erneuerbares Gas in komprimierter beziehungsweise flüssiger Form) über virtuelle Netzwerke infrage kommen.
Im Schweizer Industriesektor wird Gas neben der Versorgung mit Raumwärme und Warmwasser auch für die Erzeugung von Prozesswärme eingesetzt. Während die Elektrifizierung von Niedrigtemperaturprozessen in der Regel verhältnismässig einfach realisiert werden kann, lassen sich viele Hochtemperaturprozesse nur sehr kostspielig und unter Inkaufnahme beträchtlicher Ineffizienzen auf Strom umstellen. Erneuerbare Gase könnten im Industriebereich daher sogar verstärkt zum Einsatz kommen.
In der Stromproduktion entfällt in der Schweiz genauso wie im Verkehrssektor nur ein äusserst geringer Teil des Energieverbrauchs auf Gas. Angesichts des beschlossenen Kernenergieausstiegs und des Ausbaus intermittierender Stromerzeugung werden sowohl grössere Gaskraftwerke als auch dezentrale Kraft-Wärme-Kopplungseinheiten, die jeweils mit erneuerbaren Gasen betrieben werden, sehr wahrscheinlich erforderlich sein, um in Zeiten niedriger Wasserstände und fehlenden Sonnenlichts die Stromnachfrage bedienen zu können. Im Verkehrssektor gleicht die Situation in der Schweiz der Situation anderer europäischer Länder. Die voraussichtliche Entwicklung ist mit viel Unsicherheit behaftet. Doch auch hier bieten beispielsweise die Brennstoffzellentechnik auf Wasserstoffbasis oder die Möglichkeiten der Nutzung von Verbrennungsmotoren mit synthetischen Kraftstoffen (E-Fuels) vielversprechende Alternativen, um die Limitationen von Elektromobilität (wie z. B. geringe Reichweite, lange Ladezeiten oder hohe Anschaffungskosten) zumindest in einigen Verkehrssegmenten zu überwinden.
Im quantitativen Teil der Studie werden zwei bzw. drei potenzielle Dekarbonisierungsstrategien bis zum Jahr 2050 gegenübergestellt und die jeweiligen Kostenwirkungen in den untersuchten Ländern analysiert. Grundsätzlich sind verschiedene Entwicklungspfade möglich, die das europäische Energiesystem einschlagen kann, nicht zuletzt aufgrund der mit dem langen Zeithorizont behafteten Unsicherheit. Die erstellten Szenarien umfassen die Spanne der möglichen Rollen, die die Gasinfrastruktur langfristig einnehmen kann. Das denkbare Szenario eines vollständig elektrifizierten Energiesystems ohne jegliche Nutzung von Gas (All-Electric) wird jedoch im Kostenvergleich vernachlässigt, weil es aufgrund der erwähnten Herausforderungen technisch und wirtschaftlich nicht realisierbar erscheint.
Im All-Electric plus Gas Storage-Szenario findet zwar eine weitestgehende Elektrifizierung der Endanwendungen im Wärme-, Industrie- und Verkehrssektor statt, wodurch das Gasnetzwerk zu grossen Teilen überflüssig wird. Es wird jedoch weiterhin Gas genutzt, um die saisonalen Schwankungen des Energiebedarfs zu bewältigen. Das Gas stammt hierbei entweder aus biogenen Stoffen oder wird in Zeiten hoher Stromeinspeisungen in Power-to-Gas-Anlagen erzeugt und anschliessend gespeichert. Eine (Rück-)Elektrifizierung in Gaskraftwerken findet dann in der kühleren Jahreszeit statt, um den Wärmebedarf zu befriedigen.
Das Electricity and Gas Infrastructure-Szenario sieht hingegen auch eine Nutzung von erneuerbarem Gas auf Ebene der Endverbraucher vor, sodass die vorhandene Gasinfrastruktur inklusive der Verteilnetze weiterhin in Betrieb bleibt. Der Anteil elektrischer Endanwendungen nimmt aus Energieeffizienzgründen und als Ersatz für bislang öl- und kohlebetriebene Anwendungen auch in diesem Szenario zu. Gasbasierte Technologien, wie Gasheizungen, Wasserstoff- oder Gasfahrzeuge, kommen allerdings dort zum Einsatz, wo dies sinnvoll erscheint. In beiden Szenarien wird zudem im Verkehrssektor ein Anteil erneuerbarer flüssiger Kraftstoffe unterstellt.
In beiden Szenarien werden die Energiesystemkosten entlang der gesamten Wertschöpfungskette berechnet. Für jede Wertschöpfungsstufe findet eine separate Analyse auf Basis der jeweils zu erwartenden Entwicklungen statt. Die betrachteten Wertschöpfungsstufen sind im Einzelnen die Strom- und Gasherstellung/-import, das Gasnetz, das Stromtransport- und das Stromverteilnetz und die drei Endanwendungsbereiche Wärme, Industrie und Verkehr. Als für alle Szenarien identischer Input dienen Prognosen über die Entwicklung der effektiven Nutzenergienachfrage bis 2050 und Annahmen zu den zukünftigen Anschaffungspreisen der verschiedenen Endanwendungstechnologien. Die Daten dazu stammen aus Drittstudien. Um die Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen abzubilden, besonders in Bezug auf die Preise der diversen erneuerbaren Gasarten, werden die Berechnungen mit unterschiedlichen Parameter-Sets durchgeführt, was zu einer Spannbreite bei den resultierenden Kostenwirkungen führt.
Die quantitative Analyse für die Schweiz hat zum Ergebnis, dass die Weiternutzung der Gasinfrastruktur durch den Einsatz erneuerbarer Gase deutliche Kostenvorteile mit sich bringt. In der Summe ergibt sich, dass sich um das Jahr 2050 im Electricity and Gas Infrastructure-Szenario jährliche Gesamteinsparungen von 1,3 -1,9 Mrd. Euro gegenüber dem All-Electric and Gas Storage-Szenario realisieren lassen. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl der Schweiz entspricht dies Kosteneinsparungen in Höhe von 155 bis 221 Euro pro Kopf jährlich.
Diese Einsparungen reflektieren insbesondere vermiedene Investitionen für Endanwendungen im Wärmebereich (0,3–0,5 Mrd. Euro), in den Ausbau der Stromverteilnetze (0,6 Mrd. Euro) und in die Schaffung teurer, zusätzlicher Stromerzeugungskapazitäten bzw. den geringeren Importbedarf an Strom (0,2–0,5 Mrd. Euro). Statt der zusätzlichen Strommengen wird günstigeres erneuerbares Gas aus dem Ausland importiert und in kleineren Mengen sogar heimisch hergestellt. Auch in der Industrie (0,1–0,2 Mrd.
Euro) und im Verkehrssektor (0,1 Mrd. Euro) erweist sich eine fortgeführte Gasnetznutzung aus Kostensicht als vorteilhaft. Lediglich bei der Untersuchung der Gasnetze zeigt sich, dass der Betrieb, die Instandhaltung und die teilweise Umstellung der Gaspipelines bis 2050 leicht höhere Kosten (0,02 Mrd. Euro) verursacht als ein einmaliger Rückbau des Gas-
netzes. Dass durch die Weiternutzung der Gasinfrastruktur der Ausbaubedarf der Stromnetze in der Schweiz geringer ausfällt als in einem Szenario ohne weitestgehende Nutzung der Gasnetze, ist ein weiteres Ergebnis. Im Lichte der immer wieder auftretenden Widerstände in der Bevölkerung gegen den Ausbau von Überlandleitungen können die Gasnetze daher auch zur öffentlichen Akzeptanz des Umbaus des Energiesystems bei-tragen.
Auch bei der Analyse der anderen untersuchten Länder zeigt sich, dass im Zuge der Dekarbonisierung eine Weiternutzung der Gasinfrastruktur generell geringere energiewirtschaftliche Kosten verursacht als der Umbau zu einem fast vollständig elektrifizierten Energiesystem. So betragen über die acht Länder hinweg die Kosteneinsparungen im Electricity and Gas Infrastructure-Szenario um das Jahr 2050 insgesamt 30-49 Mrd. Euro jährlich im Vergleich zum All-Electric and Gas Storage-Szenario. Unter der Annahme einer linearen Entwicklung des Kostenaufkommens von heute bis 2050 belaufen sich die kumulierten Gesamteinsparungen auf 487-802 Mrd. Euro in den untersuchten Ländern bis zum Jahr 2050 (Realwerte, undiskontiert). Ähnlich wie in der Schweiz ergeben sich in den Bereichen Endanwendungen für Wärme, Herstellung und Import von Strom und Gas und Stromverteilnetze die grössten Kostenvorteile der Gasnutzung. Betrachtet man die einzelnen Länder, zeigen sich deutliche Unterschiede in der Höhe der Pro-Kopf-Kosteneinsparungen.
Während sich für die Niederlande Kosteneinsparungen von jährlich 215-323 Euro pro Einwohner um das Jahr 2050 ergeben, werden für Dänemark 88-192 Euro errechnet. Hier machen sich verschiedene länderspezifische Faktoren bemerkbar, wie die Gasdurchdringung in dem jeweiligen Land heute, die Netzstrukturen von Gas und Strom, politische Interessen/Erwägungen oder das inländische Potenzial von erneuerbaren Energien.
Beispielsweise verfügt die Niederlande über die höchste Gasdurchdringung der untersuchten Länder. 93% aller Haushalte sind dort an das Gasnetz angeschlossen. Dänemark hingegen hat ein weniger dicht und umfassend ausgebautes Gasnetz, steht aber vor der Herausforderung, grosse Mengen an Windenergie von der Westküste zu den Verbrauchszentren transportieren zu müssen. Die Option, den Transport der Energie in Gasform zu bewältigen, kann ökonomische Vorteile mit sich bringen.
Frankreich wiederum weist aufgrund der wichtigen Rolle, die Kernenergie in Frankreich spielt, bereits über eine hohe Quote von elektrischen Heizungen in Wohngebäuden auf. Gleichzeitig bieten sich wegen der Grösse des Landes riesige Potenziale für Biomethan und erneuerbare Gase aus Power-to-Gas-Anlagen. Auf der anderen Seite wird in der Tschechischen Republik, das über eine gut ausgebaute Gasinfrastruktur verfügt, Erdgas noch auf absehbare Zeit eine Rolle spielen, da zunächst eine Abkehr von Kohle als Energieträger geschehen muss und wichtige Transitpipelines für russisches Gas durch das Land verlaufen.
Belgien hat ebenso wie Deutschland und die Schweiz den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen und wird aufgrund des begrenzten Potenzials an erneuerbaren Energien wahrscheinlich zum Netto-Importeur von Strom und Gas. Wasserstoff (elektrisch oder «blau» erzeugt) könnte das dominierende Gas in Belgien werden – bereits heute befindet sich dort das grösste Wasserstoff-Netz Europas. In Deutschland muss zudem der Ausstieg aus der Verstromung von Kohle bis 2038 kompensiert werden. Zwar werden bereits grosse Mengen an Wind- und Solarstrom produziert. Der Ausbau des Stromnetzes, der u. a. nötig ist, um den Windstrom aus dem flachen Norden in den Süden des Landes zu transportieren, bereitet allerdings grosse Schwierigkeiten. Das Gasnetz ist idealerweise dazu geeignet, hier Abhilfe zu schaffen.
Aus der qualitativen und quantitativen Analyse der Studie ergeben sich eine Reihe von Handlungsempfehlungen an die Verantwortlichen in der Politik, um den Wandel zu einem sauberen, klimaneutralen Energiesystem möglichst wirtschaftlich zu gestalten. So ist es empfehlenswert, viele Optionen offenzuhalten und Technologien nicht vorzeitig zu verwerfen, die sich im Zuge der Dekarbonisierung noch als sinnvoll erweisen können (z. B. der Verbrennungsmotor oder Gasheizungen). Zudem sollten Voraussetzungen für fairen Wettbewerb zwischen den Technologien geschaffen werden, indem zum Beispiel eine integrierte Netzplanung von Strom und Gas stattfindet und Steuern, Abgaben und Gebühren so angepasst werden, dass sie Kosten und Nutzen widerspiegeln und entsprechend gesamtwirtschaftlich effiziente Investitions- und Verhaltensanreize setzen.
Über finanzielle Förderung sollte dort nachgedacht werden, wo ökonomische Indikatoren dafürsprechen. So kann eine temporäre Produktions- oder Investitionsförderung für neue Technologien z. B. zur Erzeugung von erneuerbaren Gasen sinnvoll sein, um notwendige Skaleneffekte zu generieren. Wichtig ist zudem die Klarstellung der Rolle von Stakeholdern in Bezug auf erneuerbare Gase. Es ist unter anderem zu klären, inwieweit und unter welchen Bedingungen Strom- oder Gasnetzbetreiber zum Betrieb von Power-to-Gas-Anlagen berechtigt sind, zum Beispiel zum Zwecke der Netz-
stabilität.
Des Weiteren sollte der grenzüberschreitende Handel von erneuerbaren Gasen durch Harmonisierung von Garantiezertifikaten und Förderungsregimen vorangetrieben werden. Und letztlich ist auch eine Interoperabilität der Systeme zu gewährleisten. Durch Standardisierung von Gasqualitäten kann auf verschiedene Möglichkeiten der Gasproduktion zurückgegriffen werden, während die positiven Effekte des Zusammenspiels der Netze maximiert werden.
[1] Bundesrat (2019): Bundesrat will bis 2050 eine klimaneutrale Schweiz, Der Bundesrat – Das Portal der Schweizer Regierung, Bern, August 2019, https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-76206.html
[2] Paul Scherrer Institut (2017): Potenziale, Kosten und Umweltauswirkungen von Stromproduktionsanlagen, Studie im Auftrag des Bundesamtes für Energie BFE, November 2017, https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/50263.pdf
[3] Bundesamt für Energie (2019): Erdgas, https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/fossile-energien/erdgas.html
[4] Verband der Schweizerischen Gasindustrie VSG (2019): Hauptnetz der schweizerischen Erdgas-Versorgung, https://gazenergie.ch/fileadmin/user_upload/e-paper/GE-GasInZahlen/GiZ_19_de.pdf
[5] European Biogas Association (2017): EBA Statistical Report 2017, gekürzte Version, https://european-biogas.eu/wp-content/uploads/2017/12/Statistical-report-of-the-European-Biogas-Association_excerpt-web.pdf
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