Nach Jahren des Verdrängens haben in den vergangenen Monaten ein paar Jugendliche das geschafft, was Wissenschaftler und Umweltaktivisten seit Jahrzehnten versuchen: Sie brachten Bewegung in die Klimadiskussion. Städte wie London, Basel und Vancouver riefen den Klimanotstand aus, der Kanton Zürich, selbst Länder wie z. B. Grossbritannien zogen nach. In der Stadt Zürich wurde eine Motion angenommen, die Netto-Null-Kohlendioxid-Emissionen bis 2030 fordert. Doch was heisst das konkret? Wie kann eine Zukunft aussehen, die keine fossilen Treibstoffe und Brennstoffe mehr nutzt?
Die Wissenschaft ist sich einig: Die Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern müssen komplett heruntergefahren werden – bis 2050, wie im Pariser Abkommen verabschiedet und in der Gletscherinitiative ausformuliert, oder bis 2030, wie von den streikenden Jugendlichen gefordert. Doch wie werden diese fossilen Treibstoffe und Brennstoffe ersetzt? Müssen neue AKW gebaut werden? Lebt eine Gesellschaft, die nur Energie aus erneuerbaren Quellen bezieht, teurer? Und wenn ja, wie viel? Wie hoch sollte eine CO2-Steuer sein, sofern sie erhoben wird? Sollte fossiler Kunststoff verboten werden, oder wäre das nur ein Tropfen auf den heissen Stein? Und nicht zuletzt: Müssen wir unseren Energiekonsum reduzieren?
Der Klimawandel und die Energiestrategie 2050 werfen viele Fragen auf. Für eine gute Diskussionsgrundlage braucht es einen Gesamtblick auf das Energiesystem und die dazugehörenden Kohlenstoffströme.
Heute deckt die Schweiz rund 75% ihres Energiebedarfs durch Importe [1]. Die anstehende Energiewende führt zu einer Unsicherheit über die zukünftige Energieversorgung und damit zum Wunsch, die einheimischen Energiequellen vermehrt zu nutzen, um unabhängiger vom Ausland zu werden – zumindest energietechnisch. Allerdings stehen viele einheimische erneuerbare Ressourcen wie Biomasse nur begrenzt zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund wurde das Projekt Carbon Flows in the Energy Transition an der Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) ins Leben gerufen. Zusammen mit der EPFL in Sion untersucht ein HSR-Team die verschiedenen Kohlenstoffquellen in der Schweiz sowie die Art und Weise, wie diese am effizientesten genutzt werden können, um den Bedarf zu decken. Der Fokus auf Kohlenstoff wurde gewählt, da er Hauptbestandteil aller fossilen Produkte ist und somit eine Schlüsselrolle in der Energiefrage einnimmt. Zudem können gewisse Stoffe nicht entkarbonisert werden (z. B. Kunststoff oder Flugtreibstoff), deshalb wird Kohlenstoff auch in den erneuerbar hergestellten Produkten eine wichtige Rolle spielen.
Viele Fachleute aus Industrie und Forschung betrachten ihre Technologie als einzig wahre Lösung zur Umsetzung der Energiestrategie und beanspruchen die Nutzung einer Energiequelle einzig für ihre Zwecke. Die limitierte Ressource Biomasse ist dafür ein gutes Beispiel. Einerseits ist Pflanzengut vielseitig verwertbar: Sei es zur Nutzung für Biotreibstoffe, Möbel, Kunststoffe oder direkt für Heizzwecke – gerade Holz ist extrem flexibel einsetzbar. Andererseits ist Biomasse nur begrenzt verfügbar – die Zuteilung muss also gut durchdacht sein. Auch erneuerbare Stromquellen wie Wind und Sonne sind durch geografische und meteorologische Rahmenbedingungen eingeschränkt und somit mitnichten unbegrenzt einsetzbar.
Aus diesem Grund besteht ein wichtiger Teil des Projektes in der Analyse der zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Grenzen von erneuerbaren (Strom-)Quellen. Dabei wird das theoretisch verfügbare Potenzial eruiert (z. B. die Menge an nachwachsendem Holz), die bereits genutzte Menge (für z. B. Möbel), technisch-ökonomische Einschränkungen (zu teure/komplizierte Quellen) und das daraus folgende tatsächlich verfügbare Potenzial. Als mögliche Kategorien von Kohlenstoffquellen werden holzige und nicht-holzige Biomasse, Kohlenstoffdioxid und Importe untersucht.
Beim Holz werden vier verschiedene Kategorien betrachtet:
– Waldholz
– Holz aus der Bewirtschaftung der Landschaft
– Holzrückstände
– Abfallholz
Das Gesamtpotenzial liegt bei ungefähr 10,2 Megatonnen (Trockenmasse) pro Jahr. Nach Abzug des bereits gebrauchten Potenzials (5,6 Mt) und der ökonomisch-technischen Einschränkungen (1,4 Mt), stehen noch 3,2 Mt Holz pro Jahr zur Verfügung, was einer Energiemenge von 14 TWh entspricht [2].
Als nicht-holzige Kohlenstoffquellen werden bezeichnet:
– Abfälle und Reste aus Ackerbau und Viehhaltung
– organische Abfälle aus Haushalten, Landschaftspflege, Industrie und Abwasserreinigungsanlagen
Theoretisch stehen in Form von nicht-holziger Biomasse der Schweiz jährlich total 17,6 Megatonnen Trockensubstanz zur Verfügung. Nach Abzug des bereits genutzten Potenzials
(12,1 Mt) und der technisch-ökonomischen Einschränkungen (2,4 Mt), bleibt ein Gesamtpotenzial von jährlich 3,1 Mt zur Nutzung, was 13,17 TWh entspricht [3].
Eine weitere Quelle für Kohlenstoff ist Kohlenstoffdioxid. Die Atmosphäre kann als fast unendliche Kohlenstoffdioxidquelle betrachtet werden, allerdings mit einer geringen CO2-Konzentration (aktuell 410 ppm). Weitere Quellen [4]:
– Zementwerke (3,29 Mt CO2/Jahr)
– Kehrichtverbrennungsanlagen (4,25 Mt CO2/Jahr)
– Abwasserreinigungs- und Biogasanlagen (1,1 Mt CO2/Jahr)
Heute wird, abgesehen von unseren landwirtschaftlichen Produkten und Holz, der gesamte Kohlenstoffbedarf in Form fossiler Treib- und Brennstoffe importiert. Damit stellen auch Importe eine wichtige Kohlenstoffquelle für die Schweiz dar. Da der Bedarf der Schweiz quantitativ gesehen im Vergleich mit dem weltweiten Vorkommen von Energieträgern sehr klein ist, wird das Potenzial von Importen mengenmässig als fast unlimitiert betrachtet.
Die Schweiz ist ein kleines Land mit komplexen geografischen und meteorologischen Eigenheiten. Bei der Planung von Energiekonzepten lohnt sich deshalb ein Blick auf die natürlichen Limiten des Landes. So definiert das Dokument «Ressourcenpolitik Holz», herausgegeben von BAFU, BFE und SECO, eine mögliche Nutzung von Schweizer Holz von jährlich leicht über 14 TWh [2]. Die vom BFE entwickelte Energiestrategie 2050 rechnet in ihren Szenarien mit einem Potenzial der Wasserkraft von jährlich 38,6 TWh und in der Windkraft mit maximal 4,3 TWh [5].
Grosses (Wachstums-)Potenzial liegt bei der Solarenergie, wie ein kürzlich erschienener Bericht des Bundesamts für Energie BFE zeigt. Darin wurden alle verfüg- und nutzbaren Dachflächen sowie Häuserfassaden erfasst und deren gesamtes Stromproduktionspotenzial mit Photovoltaik (PV) untersucht. Der Bericht hält fest, dass die Schweiz jährlich 67 TWh Strom nur mithilfe von PV produzieren kann [6], sofern die gesamte Dachfläche dafür genutzt wird. Auch Swissolar untersucht in ihrem Bericht «Solarpotenzial Schweiz» [7] die Möglichkeiten der Nutzung von Solarenergie in Form von Wärme und Strom. Der Verband hält darin ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Potenzial für Solarstrom auf den Dachflächen von jährlich 50 TWh fest, wenn alle gut geeigneten und nicht geschützten Dächer belegt werden. Das technische Potenzial ist dabei fast doppelt so gross. Das Potenzial für Solarwärme wird auf ungefähr 10 TWh begrenzt.
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Um Massnahmen untersuchen zu können, die den Bedarf senken und die fossilen Treibstoffe durch erneuerbare ersetzen, wird erst ein Blick auf die heutige Situation geworfen. Im Auftrag vom BFE untersuchte Prognos AG den heutigen Energiebedarf [8].
 | Haushalte (in GWh) |
Dienstleistungen (in GWh) |
Industrie (in GWh) |
Transport (in GWh) |
Summe (in GWh) |
Raumwärme | 44'140 | 18'000 | 4310 | 0 | 66'440 |
Warmwasse | 8920 | 3080 | 720 | 0 | 12'720 |
Prozesswärme | 1530 | 580 | 24 360 | 0 | 26'470 |
Mobilität | 0 | 0 | 0 | 65'500 | 65'500 |
Elektrizität | 10'780 | 15'620 | 14'520 | 0 | 40'920 |
Gesamtenergiebedarf | 65'390 (30,8%) |
37'280 (17,6%) |
43'890 (20,7%) |
65'500 (30,9%) |
212'060 (100%) |
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Energiebedarf der Schweiz im Jahr 2017, in GWh [8].
Der Bedarf an Elektrizität wird momentan durch folgende Quellen gedeckt: Speicher-Wasserkraftwerke (20,72 TWh/a), Flusswasserkraftwerke (15,95 TWh/a), Atomkraft (19,50 TWh/a), Kombikraftwerke/KVA (2,80 TWh/a), PV (2,28 TWh/a) und Wind (0,22 TWh/a) [9].
Wärme und Mobilität dagegen basieren auf kohlenstoffhaltigen Energieträgern. Die grössten jährlichen Anteile dabei tragen Heizöl (35,54 TWh), Erdgas (33,03 TWh), Diesel (31,82 TWh), Benzin (27,67 TWh) und Flugtreibstoffe (21,10 TWh). Mit 13,73 TWh stellt auch Holz eine grosse Energiemenge zur Verfügung. Wärmepumpen produzieren momentan 4,64 TWh, und 0,69 TWh Wärme werden durch thermische Solaranlagen erzeugt [10].
Der Energiebedarf der Schweiz wird heute zu über 65% von fossilen Energieträgern und zu 8% durch Atomkraft gedeckt. Will die Schweiz ihre Atomkraftwerke abschalten und von den fossilen Energieträgern wegkommen, muss sie also über 73% ihres heutigen Energiebedarfs neu auf erneuerbare Art decken – vorausgesetzt, der Bedarf bleibt konstant. Der CO2-Ausstoss der fossilen Brennstoffe und der fossilen Treibstoffe beträgt momentan je etwas über 15 000 Kilotonnen pro Jahr, exklusive des Flugtreibstoffs, der 5300 Kilotonnen ausmacht (betrachtet wird hierbei die Menge, die in der Schweiz getankt wird).
Das heutige Energiesystem mit seinen Anlagen kostet pro Jahr 19 Mia. Franken, wobei alleine 9 Mia. pro Jahr für Treib- und Brennstoffe ins Ausland fliessen. Die restlichen 10 Mia. Franken fliessen in die Investitions- und Betriebskosten aller energietechnischen Anlagen der Schweiz (inklusive Heizungen und Stromproduktion) sowie die Bezugskosten für inländische Energiequellen wie Holz.
Das Schöne an Modellen ist, dass sie sich unvoreingenommen und ohne jeden Skrupel ein Energiesystem erschaffen, das sie für das beste erachten. Für das in diesem Projekt entwickelte Modell ist «das Beste» das Günstigste – es optimiert nach den Gesamtkosten des Systems. Und da das Modell die Gesamtkosten unabhängig davon berechnet, ob dieses bereits steht oder nicht, stellt es sich sein Idealsystem losgelöst von der bestehenden Infrastruktur zusammen.
Lässt man das Modell den heutigen Bedarf nach eigenem Gusto decken, so zeigt es eine starke Vorliebe für Erdgas. So kann man ein Drittel der Gesamtkosten einsparen, wenn nur Erdgas als Wärmequelle und für den Strassentransport von Gütern verwendet wird – anstelle von Heizöl, Benzin und Diesel. Die private Mobilität wird dabei rein elektrisch geführt, und es kommen Gaskraftwerke und Wärmepumpen zum Einsatz. Der Einsatz der Windkraft liegt dabei an der oberen Grenze von 4,3 TWh, wie sie in der Energiestrategie 2050 vorgesehen ist. Windkraft ist unter den erneuerbaren einheimischen Elektrizitätsquellen die günstigste und wird deshalb vom Berechnungsmodell bevorzugt eingesetzt.
Um die Wirkung einer CO2-Abgabe zu berechnen, werden Schritt fĂĽr Schritt die Kosten fĂĽr fossile Brenn- und Treibstoffe erhöht. So beginnt erst ab einer Preiserhöhung von mindestens +50% des Erdgaspreises (Importpreis liegt heute bei 3.1 Rp./kWh [11]), die Vormachtstellung des fossilen Treibstoffs zu bröckeln. Der Wärmebedarf wird nun durch Wärmepumpen gedeckt, und die LĂĽcke beim Strombedarf wird, nach Ausschöpfung der Wind-, Atom- und Flusswasserkraft, importiert. Wird jedoch die StromÂimportmenge auf dem heutigen Niveau gehalten (und eine Steigerung nicht zugelassen), so wird die StromlĂĽcke wieder durch Erdgas mittels Gaskombikraftwerken gedeckt – trotz des erhöhten Preises. Parallel wächst der PV-Anteil.
Erhöht man den Preis von Erdgas und Erdöl weiter, bis sie weder in der Mobilität noch in der Produktion von Strom oder Wärme zum Einsatz kommen, kann der Kipppunkt eruiert werden, ab welchem aus Verbrauchersicht die erneuerbaren Energieträger günstiger sind als die fossilen. Der Erdgaspreis müsste dafür auf 0.15 Fr./kWh und der Erdölpreis auf 0.14 Fr./kWh angehoben werden. Diese Preiserhöhung entspricht einer CO2-Abgabe von 600 Fr./t CO2 für Erdgas und 360 Fr./t CO2 für Erdöl. Der Wärmebedarf wird nun komplett durch Wärmepumpen (niedrige Temperatur) und Kombikraftwerke mit Abfall und Holz als Brennstoff (für hohe Temperaturen) gedeckt. Die erneuerbaren Stromquellen laufen alle an ihren Limiten, mit Ausnahme der Solarenergie, deren Limite mit 67 TWh pro Jahr viel Raum nach oben lässt. Doch auch die Photovoltaik produziert bereits 20 TWh pro Jahr, zudem sind die Atomkraftwerke noch in Betrieb.
Die einzigen übrig gebliebenen fossilen Treibstoffe sind der Diesel für den Gütertransport und der Flugtreibstoff. Dieses System produziert nur noch 9300 Kilotonnen CO2 aus fossilen Quellen pro Jahr (–78% gegenüber heute). Verteilt auf die Bevölkerung gibt dies 1,1 Tonnen pro Person, was beinahe das 2000-Watt-Gesellschaftsziel von einer Tonne pro Person erfüllt.
Ab einem Preis von 0.20 Fr./kWh für Diesel (+130% gegenüber heute) und 0.18 Fr./kWh für Erdgas (das fast 6-Fache des heutigen Preises) sowie 0.15 Fr./kWh für Erdöl (+230%), beginnen sich die Carbon-Capture-and-Utilisation (CCU)-Technologien (und damit die Power-to-X-Technologien) zu etablieren. Auch Holz wird nun zur Herstellung von Methan eingesetzt, um die Güterfahrzeuge damit zu betreiben. Fehlt noch der Ersatz von Flugtreibstoff und Atomkraft.
Ab einem Preis von 0.20 Fr./kWh (+240%) für Flugtreibstoff und 0.19 Fr./kWh (+100%) für Benzin wird der Treibstoff komplett aus einer Kombination aus Biomasse und CCU-Technologien produziert. Nun sind die einheimischen Stromquellen an ihren Grenzen angelangt. Abfall wird weiterhin als Wärme- und Stromquelle eingesetzt und Holz dient zur Produktion von synthetischem Erdgas. Flugtreibstoff wird aus Wasserstoff mit CCU-Technologien und aus Biomasse hergestellt.
Werden jetzt die AKW abgeschaltet, so muss die fehlende Differenz der Stromproduktion (19,5 TWh) ersetzt werden, z. B. durch erweiterte Windparks im In- oder Ausland. Auch hilft eine Entlastung des Stromverbrauches durch den vermehrten Einsatz von Geothermie und thermischer Solarenergie. Um die gesamte potenzielle solare Energie auch nutzen zu können, muss auf Freiland ausgewichen werden – die Dächer und Fassaden reichen für PV und Solarthermie nicht aus, rund 14 TWh müssen eine andere Fläche für ihre Installation finden. Das ganze System kostet nun die Gesellschaft 22 Milliarden Franken pro Jahr – eine Erhöhung von 3 Milliarden gegenüber dem heutigen Stand (der Umbau der Infrastruktur ist dabei jedoch nicht miteinberechnet). Dieses System stösst nun pro Jahr nur noch 3,6 Mt fossiles Kohlenstoffdioxid aus. Diese Emissionen entstehen durch die Errichtung der Anlagen – sofern dafür heutige (fossile) Energiequellen eingesetzt werden.
Ganz grundsätzlich gesehen stellt die Elektrifizierung des Verkehrs kein Problem dar – die Technologie ist ausgereift, es ist ökonomisch erschwinglich und, dank der hohen Effizienz von Elektrofahrzeugen, braucht die Elektromobilität verhältnismässig wenig Energie (ungefähr die Gesamtprodukion von Flusskraftwerken).
Allerdings ist unser Energiesystem nicht ganz so einfach. Die Schweiz hat heute einen Wärmebedarf für Raumwärme und Warmwasser von jährlich 75 TWh, der grösstenteils durch die Verbrennung von Gas und Öl gedeckt wird. Nebst den ständig neu entstehenden Gebäuden, die den Energiebedarf weiter erhöhen, wird auch der Altgebäudepark nach und nach saniert. Die neu eingebauten Heizungssysteme brauchen jedoch wesentlich mehr Strom als die bisherigen – allen voran die Wärmepumpen. Allein 26 TWh Strom jährlich werden zur Deckung des Wärmebedarfs benötigt. Hinzu kommen die Wasserstoff- und damit stromintensiven CCU-Technologien, die für diejenigen Produkte benötigt werden, die nicht dekarbonisiert werden können, wie Flugtreibstoffe und Kunststoffe, und als Saisonalspeicher eine wichtige Rolle für die Netzstabilität spielen können. Das Energiesystem Schweiz kommt an seine Grenze.
Eine Effizienzsteigerung des Gesamtsystems mit Priorisierung wird notwendig sein. Schafft man es beispielsweise, den Privatverkehr zu reduzieren, bleibt mehr Energie, um den Wärmebedarf zu decken. Möchte man das heutige Verkehrssystem eins zu eins mit Elektroautos ersetzen, so muss das Potenzial von Photovoltaik komplett ausgenutzt werden. Eine Entlastung ist auch hier die Reduktion des Wärmebedarfs durch Sanierungen von Altbauten.
Was passiert mit all dem Photovoltaik-Strom im Sommer und wie kann der Bedarf im Winter gedeckt werden? Das Rechenmodell weiss auch hier eine Antwort. Der im Sommer produzierte Photovoltaikstrom wird durch Power-to-Gas-Technologien abgefangen für die Produktion von Wasserstoff und erneuerbarem Treibstoff (z. B. Flugtreibstoff). Power-to-X wird demnach eine wichtige Speicherrolle im zukünftigen Energiesystem einnehmen. Weiterhin wird eine zeitliche Umverteilung der Nutzung von verschiedenen Ressourcen wie Abfall und Holz in Betracht gezogen – aus energietechnischer Sicht ist es sinnvoll, diese komplett in den Wintermonaten für die Produktion von erneuerbaren Treibstoffen sowie für die Wärmeproduktion hoher Temperaturen zur Verfügung zu stellen und über den Sommer zu lagern. Im Sommer kann Hochtemperaturwärme durch die zur Verfügung stehende Elektrizität gedeckt werden.
Die Energiewende stellt uns vor grosse Herausforderungen. Um Carbon-Capture-(CC-)Technologien etablieren zu können, benötigt es momentan eine CO2-Abgabe auf fossile Brenn- und Treibstoffe in der Höhe von 370 Fr./t CO2 für Benzin bis 750 Fr./t CO2 für Erdgas (bei Heizöl und Flugtreibstoff ist eine Abgabe ab 560 Fr./t CO2 wirkungsvoll, bei Diesel 440 Fr./t CO2). Sobald sich die CC-Technologien weiterentwickelt haben und in grösseren Stückzahlen installiert werden, sinken ihre Kosten und damit könnte auch die CO2-Abgabe gesenkt werden. Für einen effektiven Wechsel braucht es jedoch zu Beginn die erwähnten Abgaben auf fossile Brennstoffe.
Zusätzlich ist ein Aus- und Umbau der einheimischen Energieinfrastruktur erforderlich. Nur mit rigorosem und schnellem Ausbau von Photovoltaik-, Wind- und Power-to-Gas-Anlagen kann die Energiewende geordnet ablaufen und die Abhängigkeit vom Ausland vermindert werden. Parallel dazu braucht es eine Reduktion im Energiebedarf – allem voran im Verkehr und im Gebäudepark.
[1] Bundesamt für Statistik (2019): «Energie: Panorama», https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/energie.assetdetail.7846600.html [Zugriff am 22.5.2019]
[2] BAFU, BFE, SECO (2017): «Ressourcenpolitik Holz. Strategie, Ziele und Aktionsplan Holz», Bundesamt für Umwelt BAFU; Bundesamt für Energie BFE, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO
[3] Thees, O. et al. (2017): «Biomassenpotenziale der Schweiz für die energetische Nutzung. Ergebnisse des Schweizerischen Energiekompetenzzentrums SCCER BIOSWEET», WSL Berichte, Birmensdorf
[4] Meier, B.; Ruoss, F.; Friedl, M. (2017): «InvestigaÂtion of Carbon Flows in Switzerland with the Special Consideration of Carbon Dioxide as a Feedstock for Sustainable Energy Carriers», Energy Technology, pp. 5:864-876
[5] Prognos AG (2012): «Die Energieperspektiven für die Schweiz bis 2050» Bundesamt für Energie BFE, Basel
[6] BFE (2019): «Schweizer Hausdächer und -fassaden könnten jährlich 67 TWh Solarstrom produzieren», https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/news-und-medien/medienmitteilungen/mm-test.msg-id-74641.html [Zugriff am 29.4.2019]
[7] Swissolar (2017): Meteotest «Solarpotenzial Schweiz», https://www.swissolar.ch/fileadmin/user_upload/Medien/Solarpotenzial_Schweiz.pdf [Zugriff am 29.4.2019]
[8] BFE, Prognos (2018): «Analyse des schweizerischen Energieverbrauchs 2000–2017 nach Verwendungszwecken», Bundesamt für Energie BFE; Prognos AG; Infras AG; TEP Energy GmbH, Bern
[9] BFE (2018): «Schweizerische Elektrizitätsstatistik 2017», Bundesamt für Energie BFE, Ittigen
[10] BFE (2018): «Schweizerische Gesamtenergiestatistik 2017», Bundesamt für Energie BFE, Ittigen, Bern
[11] Swiss-Impex (2019): «Swiss-Impex», Swiss Federal Customs Administration FCA, www.gate.ezv.admin.ch/swissimpex/
[12] electrosuisse, VSE AES (2010): Energietrialog «Das inländische Potenzial der neuen erneuerbaren Energien in der Schweiz», http://www.energietrialog.ch/cm_data/07_1009_Wokaun_Dietrich_Kaiser.pdf [Zugriff am 29.4.2019]
Im Rahmen des Projektes Carbon Flows in the Energy Transition wurde ein Modell zur Berechnung und Optimierung der Kohlenstoffflüsse entwickelt. Dieses basiert auf dem Energieflussmodell EnergyScope, das am Institut Industrial Process and Energy Systems Engineering an der EPFL in Sion entwickelt wurde. In der Anwendung des EnergyScope-Modells definiert der Benutzer oder die Benutzerin den Bedarf in den einzelnen Sektoren (Hoch- und Tieftemperatur-Wärme, Personenmobilität und Frachttransport sowie Elektrizität). Mit den hinterlegten verfügbaren Energiequellen und den vorhandenen Technologien, die die Quellen in das benötigte Endprodukt umwandeln, definiert das Programm den ökonomisch oder ökologisch optimalen Pfad, um den vorgegebenen Bedarf zu decken. Mit der Variation der verfügbaren Energiequellen können verschiedene Szenarien berechnet werden (z. B. der Ausstieg aus der Atomkraft). Auf der Website www.energyscope.ch kann jede Person ihr eigenes Energieszenario entwickeln.
Im Projekt Carbon Flows in the Energy Transition wurde dieses Modell um die Kohlenstoffflüsse erweitert und damit um weitere Quellen wie Holz, nasse Biomasse und CO2 sowie um neue Umwandlungsmethoden wie Biomasse- und Power-to-X-Technologien ergänzt. Das Modell gibt unter anderem die berechneten Ströme in Form eines Energie- und eines Kohlenstoff-Sankey-Diagramms aus und erlaubt damit einerseits den Pfad der einzelnen Kohlenstoff- und Energiequellen durch das System zu verfolgen und andererseits optisch sehr einfach die Grössenverhältnisse zwischen den einzelnen Strömen zueinander zu vergleichen.
Das Projekt Carbon Flows in the Energy Transition ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP70 des Schweizerischen Nationalfonds und wird vom Bundesamt für Energie und vom Bundesamt für Umwelt unterstützt.
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