Der Laie hat vielfach die Vorstellung, dass das Recht eine relativ «klare Sache» sei, Recht und Unrecht mit etwas Anstrengung und gutem Willen einfach zuordenbar. Relativ vage erscheinende Rechtsbegriffe wie Vermutung und Fiktion passen da schlecht ins Bild, sind aber Bestandteil des Rechtsalltags.
Um die verschiedenen Normierungsbestrebungen von Staat und Wirtschaft und deren rechtlichen Folgen unterscheiden zu können, bedarf es vorgängig der Definition zweier unbestimmter Rechtsbegriffe im Bereich des technischen Standards und Fortschritts: Regeln der Technik (oft auch anerkannte Regeln der Technik genannt) und Stand der Technik.
Die Regeln der Technik entsprechen dem zu einem bestimmten Zeitpunkt zwingend einzuhaltenden technischen (Mindest-)Standard, der zur Erfüllung der vorherrschenden Sicherheitserwartungen notwendig, geeignet und zweckdienlich zu sein hat und der den technologischen Wandel miteinbezieht. Im Gegensatz zu einer Norm, die nach einem vordefinierten Verfahren in einem Schriftwerk festgehalten wird, sind die anerkannten Regeln der Technik nicht zwingend schriftlich fixiert, zumindest sind sie nicht an ein bestimmtes Schriftwerk gebunden. Sie setzen sich insbesondere aus staatlichen und privaten Normen, nationalen technischen Spezifikationen, privaten Regelwerken und technischem Grundwissen zusammen. Trotzdem haben sie die grössere rechtliche Bedeutung, da sie dynamisch sind und den technologischen Wandel automatisch mitgehen. Starre Normen dagegen sind nach einer gewissen Zeit revisionsbedürftig und laufen damit Gefahr, dem aktuellen technischen Standard hinterherzulaufen. Somit sind im Zweifelsfall die Regeln der Technik einer nicht obligatorischen Norm vorzuziehen.1
Der weitergehende Begriff Stand der Technik umfasst das entwickelte Stadium der technischen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt basierend auf gesicherten Erkenntnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung. Er bezieht zusätzlich zu den Regeln der Technik u. a. auch Artikel in der Fachpresse, Inhalte von Fachseminaren, technische Lösungen oder praktische Erfahrungen von Mitkonkurrenten, betriebsinterne Erkenntnisse wie Rückmeldungen der Serviceeinheit oder der Kundschaft mit ein. Der Begriff Stand der Technik spielt vor allem im Patentrecht, Umweltrecht und Produktesicherheitsrecht eine zentrale Rolle. In Haftpflichtfällen, insbesondere im Bereich der Produkte- und Werkeigentümerhaftung, wird er regelmässig als sicherheitstechnischer Massstab herangezogen.2
1 Hess, RN 25 zu Art. 3 PrSG
2 Hess, RN 26 und 27 zu Art. 3 PrSG
Normierungen technischer Art können grundsätzlich in drei Kategorien unterteilt werden:
Technische Vorschriften sind rechtlich verbindliche Vorgaben des Gesetzgebers, die zwingend einzuhalten sind. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, auf welcher Staatsebene (Bund, Kantone, Gemeinden) bzw. auf welcher Hierarchiestufe (Gesetz oder Verordnung) die Bestimmungen verankert sind.
Technische Normen dagegen sind private technische Regelwerke, die in einem mehrstufigen, formellen und öffentlichen Verfahren von den Gremien einer staatlich anerkannten Normenorganisation erarbeitet und beschlossen werden. Solche Normen im engeren Sinne, allenfalls im Zusammenspiel mit nationalen technischen Spezifikationen, bezeichnet man gemeinhin als «anerkannte Regeln der Technik».3 Sie spielen im Rahmen der Rechtsanwendung und Rechtsprechung im Zusammenhang mit fachtechnischen Fragen eine wichtige Rolle. Die Anwendung dieser Normen ist jedoch im Grundsatz freiwillig. Die technischen Anforderungen können auch auf andere Weise erfüllt werden, sofern die Alternative im Hinblick auf die angestrebten Schutzziele gleichwertig ist. Wenn dem nicht so wäre, würden technische Innovationen praktisch verunmöglicht.
Technischen Normen begegnet man in harmonisierter und nicht harmonisierter Form. Harmonisierte Normen sind eine spezielle Kategorie von europäischen Normen, welche im Auftrag der EU-Kommission von den europäischen Normenorganisationen CEN, CENELEC und ETSI erlassen und als sogenannte EN im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden. In der Schweiz erfolgt die Publikation nach erfolgter Umsetzung ins inländische Normenwerk im Bundesblatt. Die ErfĂĽllung harmonisierter Normen fĂĽhrt zu einer Beweisvermutung fĂĽr die Konformität eines Produkts oder eines Verfahrens. Der NormÂanwender wird dadurch von der Beweislast der Konformität entbunden (vgl. Box 2, 2. Beispiel). Eine nicht harmonisierte unterscheidet sich von einer harmonisierten Norm hauptsächlich darin, dass ihr kein Mandat der Europäischen Kommission zugrunde liegt.4
Bei der dritten Kategorie handelt es sich um private Schriftwerke, die von Branchenfachverbänden wie dem SVGW in Eigenregie herausgegeben werden, um in erster Linie ihren Mitgliedern eine technische Richtschnur anbieten zu können. Da in anerkannten Fachorganisationen das Know-how der Branche konzentriert ist und an der Erarbeitung eines Werks regelmässig auch externe Fachleute, z. B. aus der Wissenschaft, beteiligt sind, werden diese Art von Publikationen von einer Mehrheit repräsentativer Fachleute und erfahrungsgemäss von den zuständigen Behörden ebenfalls als Ausdruck anerkannter Regeln der Technik betrachtet. Daneben stützen sich gerichtliche Instanzen im Einzelfall auch auf eigens in Auftrag gegebene Gutachten von Sachverständigen, sogenannte Gerichtsgutachten, ab. Gerichtsgutachter sind von Gesetzes wegen zur Wahrheit verpflichtet und unterstehen den gleichen Ausstandsgründen wie die Gerichtspersonen.5 Die Einhaltung dieser dritten Art von Normierungsschriften erfolgt selbstredend auf freiwilliger Basis, d. h. andere zielführende Vorgehensweisen sind erlaubt.
5 Art. 184 Abs. 1 und 183 Abs. 2 ZPO
Zu betonen ist, dass der einzelne, allein verwendete Begriff, wie z. B. Norm, in unterschiedlichen Kontexten vorkommt und folglich nicht «geschützt» ist: man hält sich – oder auch nicht – an gesellschaftliche oder rechtliche Normen. Empfehlungen, Leitsätze und Richtlinien werden nicht nur von Privaten, sondern regelmässig auch von Behörden herausgegeben (z. B. Vollzugshilfen). Der Begriff Vorschriften wird ebenfalls auf unterschiedliche Weise verwendet, zum Teil auch im Zusammenhang mit Verträgen (vertragliche Vorschrift). Nur wenn in einzelnen Gesetzen oder Verordnungen ein Begriff eindeutig definiert wird, besteht im engen Rahmen eines solchen Erlasses Gewissheit über die rechtliche Bedeutung des entsprechenden Begriffs.6
6 vgl. z. B. Art.2 PrSG
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Versorgungsunternehmen und Planern sind Sorgfaltspflichten auferlegt. Um diesen Sorgfaltspflichten nachzukommen, sollte gemäss den anerkannten Regeln der Technik gehandelt werden. Es stellt sich nun die Frage, ob das SVGW-Regelwerk in der Praxis ebenfalls eine Vermutungswirkung für die Einhaltung von Sorgfaltspflichten erzeugen kann oder nicht. In diesem Zusammenhang ist Art. 8 ZGB über die Beweisregeln (Beweislast) zu beachten. Dieser besagt, dass grundsätzlich derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache beweisen muss, der daraus Rechte ableitet, ausser das Gesetz bestimmt dies ausnahmsweise anders. Bei Vorliegen einer solchen Ausnahme spricht man von einer gesetzlichen Vermutung, die eine sogenannte Beweislastumkehr zur Folge hat (s. Box 2).
Bei den gesetzlichen Vermutungen, die eine Beweislastumkehr zur Folge haben, unterscheidet man zwischen Rechts- und Tatsachenvermutungen. Beim hier nicht näher betrachteten Begriff der Rechtsvermutung wird von einer Vermutungsbasis aus auf ein Recht oder Rechtsverhältnis geschlossen.7 Zum Beispiel besagt Art. 255 Abs. 1 ZGB, dass der Ehemann als Vater gilt (d. h. vermutet wird), wenn ein Kind während der Ehe geboren wird. Der uneheliche Vater dagegen muss seine behauptete Vaterschaft beweisen.
Eine Tatsachenvermutung dagegen weist auf einen Sachumstand hin.8 Art. 16 Abs. 1 OR erklärt zum Beispiel, dass ein von Gesetzes wegen an keine Formvorschriften gebundener Vertrag vermutungsweise erst mit dem Einhalten der vereinbarten Form (in der Regel aus Beweisgründen schriftlich) zustande kommt, sofern die Parteien dies vorgängig so abgemacht haben (z. B. in einem Vorvertrag). Wenn nun die eine Partei sich nicht an den Vertrag gebunden fühlt, weil es nie zur vereinbarten Vertragsunterzeichnung gekommen ist, muss diese lediglich beweisen, dass Schriftlichkeit vereinbart worden ist. Die Gegenpartei dagegen, die sich auf den grundsätzlich formlos gültigen Vertrag beruft, kann die gesetzliche Vermutung umstossen, indem sie nachweist, dass die Parteien sich zu einem späteren Zeitpunkt ausdrücklich oder stillschweigend einigten, auf die Unterzeichnung eines Vertrages zu verzichten.
7 Flavio Lardelli, RN 68 zu Art. 8 ZGB
8 Flavio Lardelli, RN 68 zu Art. 8 ZGB
Neben der gesetzlichen existiert auch der Begriff der tatsächlichen Vermutung. Sie wird auch richterliche Vermutung genannt, da sie aufgrund der Lebenserfahrung des urteilenden Richters bzw. Gerichts aufgestellt wird und damit auf Indizien beruht. Die Rechtsgrundlage dafür findet sich jedoch nicht im Zivilgesetzbuch (ZGB), sondern in der Zivilprozessordnung (ZPO) in Art. 157, der den Grundsatz der freien Beweiswürdigung festhält: «Das Gericht bildet sich seine Überzeugung nach freier Würdigung der Beweise.»9
9 Flavio Lardelli, RN 85 und 86 zu Art. 8 ZGB
Verwandt und daher leicht verwechselbar mit den vorgenannten Begriffen (gesetzliche Vermutung, tatsächliche Vermutung) ist jener der Fiktion, der nicht auf Anhieb mit der Rechtswelt in Verbindung zu bringen ist, da er abseits des Kunstbetriebs häufig ein zweifelhaftes Image hat (vgl. fiktive Rechnungen in der Buchhaltung, fiktive Personen in einem angeblichen Tatsachenbericht oder beschönigende, aufgepeppte «alternative facts» in der Trumpschen Scheinwelt…). In der juristischen Diktion bezeichnet man als Fiktion eine vom Gesetzgeber aufgestellte, an eine Fiktionsbasis geknüpfte, nicht widerlegbare Tatsachen- oder Rechtsvermutung.10 Anders ausgedrückt: unter Fiktion wird eine Anordnung des Gesetzes verstanden, tatsächliche oder rechtliche Umstände als gegeben zu behandeln, obwohl sie in Wirklichkeit nicht vorliegen. Der Gesetzgeber stellt z. B. in Art. 200 Abs. 1 ZGB in Wiederholung der Beweislastregel von Art. 8 ZGB sinngemäss fest, dass wer im Rahmen des ordentlichen ehelichen Güterstandes der Errungenschaftsbeteiligung behauptet, ein bestimmter Vermögenswert sei in seinem Alleineigentum, dies beweisen muss. In Abs. 2 wird in der Folge die Fiktion aufgestellt, dass Miteigentum beider Ehegatten gelten soll, falls dieser Beweis nicht erbracht werden kann.
10 Flavio Lardelli, RN 70 zu Art. 8 ZGB
Von sich aus kann das SVGW-Regelwerk keine gesetzlichen Wirkungen gemäss Art 8 ZGB («Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, …») nach sich ziehen, da es sich bekanntlich um ein privates Schriftwerk handelt. Der Verweis auf die SVGW-Richtlinien G1, G2, G3, G7 und G11 in Art. 3 Abs. 2 lit. e RLSV genügt den Anforderungen an eine Beweislastumkehr im streng juristischen Sinne nicht, da Art. 8 ZGB Ausnahmeregelungen nur auf formeller Gesetzesebene zulässt («Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt …»). Das der Ausführungsbestimmung von Art. 3 RLSV zugrunde liegende Rohrleitungsgesetz enthält jedoch keinen Hinweis in diese Richtung.
Wenn ein Verweis auf das SVGW-Regelwerk in einem kantonalen Gesetz oder einer kommunalen Verordnung erfolgt, dann kann es sich je nach gewählter Formulierung um eine zwingende technische Vorschrift, einen rein informativen Hinweis oder aber um einen Vermutungstatbestand mit Beweislastumkehr handeln, dessen rechtliche Wirkung sich jedoch auf das Verwaltungsrecht der entsprechenden Staatsebene beschränkt. Nicht betroffen davon ist demnach das Zivilrecht und das Strafrecht (ausgenommen das kantonale Übertretungsstrafrecht), da beide Rechtsgebiete in die Kompetenz des Bundes fallen und im Übrigen im Strafrecht die Beweislast sowieso ausschliesslich bei der Anklagebehörde liegt (siehe Box 4). Mit anderen Worten: die Einhaltung einer Norm, auf die ein kantonaler oder kommunaler Erlass verweist, ist kein absoluter Garant dafür, strafrechtlich nicht doch zur Verantwortung gezogen zu werden. Das Gleiche gilt im verschuldensabhängigen Haftpflichtrecht, z. B. bei der Delikts- oder der Vertragshaftung. Nichtsdestotrotz ist der Verweis auf das SVGW-Regelwerk in einer Bundesverordnung oder einem kantonalen bzw. kommunalen Erlass sicherlich ein starkes Indiz für die Einhaltung der Sorgfaltspflichten durch die betroffene Person, die in der Praxis ähnliche Folgen wie eine effektive Beweislastumkehr hat oder zumindest eine Beweiserleichterung im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach sich zieht. Zweifellos wird das SVGW-Regelwerk auch ohne behördlichen Verweis von Entscheidungsträgern aus Verwaltung und Rechtsprechung regelmässig zur Beurteilung eines technischen Sachverhaltes herangezogen.
Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: ja, der Anwender des SVGW-Regelwerks kann sich grundsätzlich auf der sicheren Seite fühlen, wenn er sich an dieses hält, ausser er hätte aufgrund seiner fachlichen Ausbildung oder seines nachweislichen Wissensstands eine allfällige Fehlerhaftigkeit oder Ungenauigkeit einer SVGW-Norm erkennen und danach handeln müssen. Um sicherzugehen, wird dem Anwender des Regelwerks empfohlen, bei einer interpretationsbedürftigen Formulierung den bestehenden oder vermeintlichen Spielraum nicht auszureizen, sondern jene Auslegungsvariante zu wählen, die Garant für die höhere Sicherheit bietet. So kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen.
– PrSG: Bundesgesetz über die Produktesicherheit vom 12.06.2009, SR 930.11
– ZPO: Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19.12.2008, SR 272
– ZGB: Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10.12.1907, SR 210
– OR: Schweizerisches Obligationenrecht vom 30.03.1911, SR 220
– RLG: Bundesgesetz über Rohrleitungsanlagen zur Beförderung flüssiger oder gasförmiger Brenn- oder Treibstoffe vom 04.10.1963 (Rohrleitungsgesetz), SR 746.1
– RLSV: Verordnung über Sicherheitsvorschriften für Rohrleitungsanlagen vom 04.04.2007, SR 746.12
– StGB: Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21.12.1937, SR 311.0
«Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet.»
In den folgenden beiden Beispielen ergibt sich die Umkehr des Grundsatzes zur Beweislast aus dem Gesetz:
Bei einer Vertragsverletzung hat der Schuldner zu beweisen, dass diese allein dem Zufall oder einer Drittperson geschuldet ist; die Verantwortlichkeit des Schuldners wird gesetzlich vermutet. Die Höhe des Schadens oder den Kausalzusammenhang z. B. muss dagegen ganz regelkonform der Gläubiger, der seine Forderung geltend macht, beweisen.
Grundsätzlich muss der Inverkehrbringer eines Produkts beweisen, dass sein Produkt die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen erfüllt. Wenn jedoch ein Produkt nach einer harmonisierten technischen Norm produziert worden ist, muss die Marktüberwachungsbehörde beweisen, dass das Produkt die Grundanforderungen nicht einhält; die Konformität des Produkts wird gesetzlich vermutet.
Eine Leitung des Stadtwasserwerks bricht und verursacht grösseren Sachschaden. Welche rechtlichen Konsequenzen kann ein solcher Schadenfall für das Werk und allenfalls mitverantwortliche Mitarbeiter haben? Versicherungsrechtliche Fragen bleiben an dieser Stelle ausgeklammert; stattdessen wird auf die SVGW-Versicherungslösung «Betriebs- und Produkthaftpflicht für Gas-,
Wasser- und Fernwärmeversorger» verwiesen. Bei dieser Lösung werden Schäden aus Versorgungseinrichtungen allgemein als Werkmangelfolgeschäden (Art. 58 OR) behandelt, auch wenn sich weder eine fehlerhafte Anlage noch ein mangelhafter Unterhalt nachweisen lässt.
In erster Linie haftet das Werk als Werkeigentümer im Sinne von Art. 58 OR, falls der Unfall infolge eines Konstruktionsfehlers oder aufgrund mangelhaften Unterhalts verursacht worden ist. Das Werk haftet auch dann, wenn ihm keine Sorgfaltspflichtverletzung nachgewiesen werden kann (z. B. bei einem Materialfehler), da es sich bei der Werkeigentümerhaftung um eine verschuldensunabhängige Kausalhaftung handelt. Wenn der Unfall durch ein mangelhaftes Produkt verursacht worden ist, kann versucht werden, auf den Hersteller bzw. Inverkehrbringer des Produkts Rückgriff zu nehmen. Für das Ereignis allenfalls (mit)verantwortliche Mitarbeiter können grundsätzlich ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden aufgrund von Art. 41 OR (Verschuldenshaftung). Hier muss dem Haftpflichtigen jedoch mindestens eine leichte Fahrlässigkeit nachgewiesen werden können.
Wenn der Unfall durch ein grobes Verschulden einer Drittperson oder höhere Gewalt (Zufall reicht nicht) verursacht worden ist, kann die Haftpflicht allenfalls wegfallen. Die Beweislast gemäss der Regel von Art. 8 ZGB liegt für das Vorliegen sämtlicher Haftungsvoraussetzungen (inkl. Nachweis des Konstruktionsfehlers oder des mangelhaften Unterhalts) beim Geschädigten und für die genannten Entlastungsgründe beim Schädiger. Falls der Geschädigte dem Schädiger keinen Konstruktionsfehler oder mangelhaften Unterhalt nachweisen kann, bleibt diesem grundsätzlich noch die Einklagung des Schadens über die verschuldensabhängige Deliktshaftung von Art. 41 OR offen.
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Strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden in erster Linie die für den Unfall verantwortlichen natürlichen Personen. Beweispflichtig ist im Strafrecht immer die Anklagebehörde, nie die angeklagte Person. Dem Angeklagten müssen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen eines Strafartikels nachgewiesen werden, insbesondere die persönliche Vorwerfbarkeit (Schuld) in Form von fahrlässigem oder vorsätzlichem Verhalten, wobei eine leichte Fahrlässigkeit in der Regel bereits genügt. Fahrlässig verursachter Sachschaden (selbst bei Grobfahrlässigkeit) muss jedoch im Rahmen eines Vorfalles entstanden sein, der eine bestimmte Intensität aufweist, z. B. im Zusammenhang mit einer Überschwemmung, einer Feuersbrunst oder eines Hauseinsturzes (vgl. Art. 222 und 227 StGB), da eine «einfache» Sachbeschädigung im Sinne von Art. 184 StGB nur bei Vorsatz strafbar ist.
Erst seit 2003 kennt die Schweiz die strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen und zwar in Form des Artikels 102 StGB. Nach dieser Bestimmung kann ein Unternehmen mit bis zu 5 Mio. Franken bestraft werden, wenn ein Verbrechen oder Vergehen aufgrund mangelhafter Betriebsorganisation keinem Mitarbeiter zugerechnet werden kann.
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