In welchen Bereichen ist Stockholm Exergi aktiv?
Stockholm Exergi ist ein lokales Energieunternehmen, das Fernwärme, Fernkälte und Strom erzeugt und verteilt. Im Zentrum stehen die Verteilnetze, über die das Unternehmen seine Kundinnen und Kunden mit Wärme und Kälte versorgt. Heute sind mehr als 800 000 Einwohner Stockholms und Umgebung sowie über 400 Krankenhäuser, Rechenzentren und andere private und öffentliche Unternehmen an unsere Wärme- respektive Kältenetze angeschlossen. In und um Stockholm ist das Unternehmen der grösste Anbieter von Fernwärme. Bei der Fernwärme und Fernkälte deckt Stockholm Exergi die Bereiche Produktion, Planung, Bau und Betrieb der Netze sowie Verteilung ab. Der von uns erzeugte und nicht selbst verwendete Strom wird verkauft.
Wie sieht das Fernwärmenetz von Stockholm Exergi aus?
Im Moment handelt es sich um zwei Netze. Das eine versorgt die zentralen und südlichen Stockholmer Stadtbezirke sowie südlich der Stadt gelegene Kommunen. Das andere Netz erstreckt sich über die Stadtbezirke nordwestlich des Zentrums bis hin zu den Gemeinden Sigtuna und Märsta im Norden von Stockholm. Zurzeit laufen erste Planungen, die beiden Netze über eine etwa 14 Kilometer lange Verbindungsleitung zusammenzuschliessen. Die beiden Netze zusammen weisen eine Länge von gut 1600 Kilometern auf respektive eine Rohrleitungslänge von 3240 Kilometern, wenn Vor- und Rücklauf einbezogen werden.
… und das Fernkältenetz?
Bei der Fernkälte kann noch viel weniger von einem Netz gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr um acht einzelne Netze, die allesamt kleiner sind als die beiden Fernwärmenetze. Mit 250 Kilometern Rohrleitungslänge gehören die Fernkältenetze zusammengenommen zu einem der grössten Fernwärmesysteme weltweit.
Sie haben ein Angebot namens «Open District Heating». Was ist darunter zu verstehen und an wen richtet sich dieses Angebot?
Dieses Angebot besteht seit 2013 und richtet sich an Kunden, wie zum Beispiel Rechenzentren, die einen Energieüberschuss aufweisen oder viel Abwärme loswerden müssen, welche in die bestehenden Temperaturniveaus unserer Fernwärme- und Fernkältesysteme aufgenommen werden kann. In der Praxis funktioniert das System für «offene Fernwärmelieferanten» folgendermassen: Der Energiepreis, die Liefertemperatur und der Abruf werden bis 16.00 Uhr am Tag vor der Lieferung auf der Website von «Open District Heating» veröffentlicht. Die Werte basieren auf der prognostizierten Aussentemperatur für den betreffenden Tag. Hat der Lieferant offene Wärmeabrufe, liefert er zum Zeitpunkt des Abrufs. Verfügt der Lieferant über offene Spot-Wärme, entscheidet er, ob er das Angebot annimmt und Wärme zu den veröffentlichten Konditionen liefert. Die Vergütung für die gelieferte Wärme wird monatlich an den Lieferanten gezahlt.
«Stockholm Exergi nutzt nicht nur die Wärme von gereinigtem Abwasser, sondern auch Umweltwärme, indem es mehrere grosse Meerwasser-Wärme-pumpen betreibt.»
Welche Wärmequellen werden zurzeit genutzt?
Insgesamt betreibt Stockholm Exergi über 150 Produktionsanlagen, darunter viele kleine für die Spitzenlastabdeckung, aber auch fünf grosse Erzeugungsstandorte. Vier dieser fünf grossen Produktionsanlagen sind Heizkraftwerke, in denen Haushaltsabfall, Bauabfälle, Holzhackschnitzel und -pellets (Reststoffe aus der Forst- und Sägeindustrie) verbrannt und in Wärme und Strom umgewandelt werden. Die fünfte Anlage, das Hammarbyverket, besteht aus sieben Grosswärmepumpen, die Wärme aus aufbereitetem Abwasser gewinnen, zwei mit Bio-Öl befeuerten Heizkesseln und zwei elektrischen Heizkesseln, die nur in den kalten Wintermonaten eingesetzt werden. Zusammen produzieren die Anlagen am Standort Hamm erby jährlich bis zu 1200 Gigawattstunden Wärme. Stockholm Exergi nutzt aber nicht nur die Wärme von gereinigtem Abwasser, sondern auch Umweltwärme, indem es mehrere grosse Meerwasser-Wärmepumpen betreibt. Die Anteile der verschiedenen Produktionstechnologien an der gesamten thermischen Leistung (nur Wärme) von 4011 Megawatt teilen sich folgendermassen auf: Gute 40 Prozent werden durch reine Heizkessel produziert, 35 Prozent durch Wärme-Kraft-Kopplung, rund 13 Prozent durch Wärmepumpen (davon etwas mehr als die Hälfte aus Umweltwärme, der Rest aus Abwasserabwärme) und schliesslich knapp 9 Prozent durch Elektroheizkessel.
Es wird von verschiedenen Generationen der Fernwärmenetze gesprochen. Zu welcher Generation gehören die aktuell von Stockholm Exergi betriebenen Fernwärmenetze?
Heute betreiben wir normalerweise Fernwärmesysteme der dritten Generation mit einer Vorlauftemperatur von 70 bis 120 Grad Celsius und einer Rücklauftemperatur von etwa 40 bis 45 Grad Celsius. Wir haben einige ältere Niedertemperatur-Fernwärmegebiete aus den 1970er- und den 1990er-Jahren sowie einige lokale Fernwärme- und Fernkältelösungen mit niedrigeren Systemtemperaturen, die der vierten Generation entsprechen. Seit über 20 Jahren arbeiten wir daran, die Systemtemperatur bei den Kundinnen und Kunden zu senken, um so auch die Temperaturen im Fernwärmenetz reduzieren zu können. Unser Ziel ist, die Vorlauftemperaturen in den bestehenden Netzen auf 90 Grad Celsius abzusenken. In neuen Quartieren beträgt die Vorlauftemperatur heute schon nur 70 Grad Celsius.
Welche Wärmequellen sollen künftig genutzt werden?
Unsere Welt steht vor grossen klimatischen Herausforderungen; wir müssen unsere Kohlenstoffemissionen reduzieren und energieeffizienter werden. Fernwärme und Fernkälte spielen eine wichtige Rolle dabei, unsere Städte nachhaltiger zu machen. Um dies zu erreichen, müssen wir allerdings mehr Energie niedriger Qualität nutzen, was wiederum niedrigere Systemtemperaturen bedingt. Niedrigere Systemtemperaturen ermöglichen die Nutzung von Restwärme aus verschiedenen Quellen. So lässt sich «geringwertige Energie» stärker nutzen, indem von Kunden Abwärme ins System eingebracht und somit zwischen den Liegenschaften, das heisst von Kunde zu Kunde, ausgetauscht werden kann. Gleichzeitig kann mithilfe der Digitalisierung und Systemoptimierung in allen Bereichen, von der Produktion über die Verteilung bis hin zum Kunden, ein echter Mehrwert mit Kreislaufprozessen entstehen – wir nennen diese Entwicklung die nächste Generation der Fernwärme und Fernkälte. Durch die Kreislaufführung und Wiederverwendung von Energie verringert sich die erforderliche Neuproduktion von Wärme.
Auch wenn die Abwärmenutzung künftig stärker ins Zentrum rücken wird, wird es weiterhin einen Bedarf an mehreren unterschiedlichen Wärmequellen geben. Gleichzeitig wird es enorm wichtig sein, die Speicherung von Wärme und Kälte stärker ins System zu integrieren, auch um im Zusammenspiel mit Grosswärmepumpen die Volatilität des Strompreises nutzen zu können. Das bedeutet, dass, wenn billiger Ökostrom zur Verfügung steht, dieser zum Betrieb grosser Meerwasser-Wärmepumpen und zur Erzeugung von in Akkumulatoren (Speichern) gespeichertem Warmwasser (Power-to-Heat) genutzt wird. Wenn wenig billiger Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung steht, werden die Wärmepumpen abgeschaltet und die gespeicherte Wärme und Kälte für die Versorgung der Kunden genutzt. Auf diese Weise wird die Wärme- und Kältespeicherung als eine Art Strombatterie genutzt, die sehr effizient und kostengünstig ist. Heute haben wir die Möglichkeit, Wärme und Kälte in mehreren Anlagen in Stockholm zu speichern.
Sie haben gerade die Weiterentwicklung Ihrer Fernwärme- und Fernkältesysteme hin zur nächsten Generation angesprochen. Wie soll diese nächste Generation Fernwärme aussehen und was ist das Herzstück eines solchen Systems?
In erster Linie geht es dabei um die Nutzung geringwertiger Energie in einem System – entweder als Zweirohrsystem oder als Dreirohrsystem ausgelegt – mit niedrigen Systemtemperaturen und Kreislaufführung. Ein wichtiger Bestandteil eines solchen zukünftigen Fernwärmesystems ist der sogenannte Kollektor, eine zusätzliche dritte Leitung neben den Vor- und Rücklaufleitungen. Der Kollektor ermöglicht es, Abwärme von Kunde zu Kunde zu übertragen wie auch die Abwärme aus unseren eigenen alten Rücklaufleitungen der dritten Generation zu nutzen. Der Rücklauf der Stockholmer «Steinstadt» (zentrale Stadtviertel Stockholms mit Fernwärmenetz der dritten Generation) wird als neue «zweite» Versorgungsleitung mit einer Temperatur von rund 40 Grad Celsius für die Beheizung neuer Quartiere verwendet. Diese Niedertemperatur-Versorgungsleitung dient gleichzeitig als Kollektor, in dem überschüssige Abwärme von Liegenschaften und Unternehmen (beispielsweise Rechenzentren) für den Wärmebedarf innerhalb des Quartiers und zum Laden von Warmwasser-Akkumulatoren verteilt werden kann. Liegenschaften mit Wärmeüberschuss können so diesen mit Liegenschaften teilen, die Wärme benötigen. Es handelt sich um eine Art im Kreislauf geführte Wärmespeicherung.
Beim System der vierten Generation befinden sich Vorlauf und Kollektor in einem Doppelkunststoffmantelrohr, während der Rücklauf als Einzelrohr ausgeführt wird. Die Temperaturen des Vorlaufs und Rücklaufs liegen bei rund 70 respektive 30 Grad Celsius. Der Kollektor wird einerseits als zweiter Vorlauf mit niedriger Temperatur – ungefähr 40 Grad Celsius – für das Vorwärmen von Warmwasser und die Gebäudeheizung angewendet. Andererseits kann der Kollektor auch Abwärme aufnehmen. Mit den deutlich niedrigeren Systemtemperaturen, insbesondere im Kollektor, entfallen die heutigen Beschränkungen in Bezug auf das Einbringen von Abwärme. Folglich kann viel mehr Abwärme abgegeben und im System rezirkuliert werden.
Welche Vorteile bringt diese nächste Generation Fernwärmenetz stromseitig mit sich?
Wenn die Systemtemperaturen – Vor- wie Rücklauf – abgesenkt werden und mehr Abwärme innerhalb des Systems genutzt wird, muss – wie bereits beschrieben – weniger Wärme neu erzeugt werden. Damit können die WKK-Anlagen anders gefahren werden, sodass mehr Strom und weniger Wärme produziert wird. Die niedrigen Rücklauftemperaturen des neuen Systems führen zudem dazu, dass die Rauchgaskondensation in unseren Produktionsanlagen gesteigert wird, was wiederum mit einer Erhöhung der Stromproduktion einhergeht. Zusammen mit den ebenfalls vorgängig beschriebenen Speichern lässt sich ein hocheffizientes System schaffen, das wie eine Strombatterie mit hohem Wirkungsgrad funktioniert.
«Herzstück solch eines künftigen Fernwärmesystems ist der sogenannte Kollektor, eine zusätzliche dritte Leitung im Fernwärmenetz.»
Wie sollen die Fernkältesysteme in Stockholm weiterentwickelt werden?
Ähnlich wie bei der Fernwärme könnte Rücklaufwasser von Kunden des «alten» ersten Fernkältesystems zur Versorgung neuer Gebiete genutzt werden, wenn die dortigen Liegenschaften an höhere Systemtemperaturen für Fernkälte angepasst werden. Höhere Systemtemperaturen ermöglichen sowohl eine höhere Kapazität im Fernkältesystem als auch die Nutzung eines noch grösseren Anteils an freier Kühlung (das heisst direkter Austausch mit Meerwasser), womit sich die Kühlung mit Kältemaschinen reduzieren lässt, was das Stromsystem entlastet. Es ist zu erwarten, dass höhere Systemtemperaturen im Sommer zu Stromeinsparungen führen. Wir gehen davon aus, dass die Liegenschaften Primärwasser von ca. 12 Grad Celsius aufnehmen und mit 20 Grad Celsius zurückführen können anstatt der derzeitigen 5 und 15 Grad Celsius.
Welche Einschränkungen und Herausforderungen sind mit der nächsten Generation Fernwärme und Fernkälte verbunden?
Sinnvollerweise lässt sich das System der nächsten Generation nur in grossen, neuen Überbauungen und Quartieren einsetzen. Dabei ist es entscheidend, dass wir frühzeitig bei der Planung der Quartiere und Stadtteile von den lokalen Behörden und Bauherren einbezogen werden. Für ältere, bereits bestehende Quartiere ist das System nicht geeignet. Nachteilig ist auch, dass ein drittes Rohr benötigt wird, um die bestehenden Rücklauftemperaturen voll zu nutzen und die überschüssige Wärme der Kunden zu teilen, was mit einem grösseren Platzbedarf einhergeht. Allerdings bewegt sich dieser wegen des Zusammenfassens von Vorlauf und Kollektor in einem Doppelrohr in einem überschaubaren Rahmen. Und schliesslich braucht es in den Gebäuden grössere Wärmetauscher mit einer höheren thermischen Länge.
«Auf dem Gelände der Energiezentrale soll eine Anlage zur Abscheidung des biogenen Kohlendioxids aus den Rauchgasen des Heizkraftwerks und zur anschliessenden Verflüssigung entstehen.»
Neben der Dekarbonisierung des Fernwärmesystems entwickelt Stockholm Exergi Technologien mit negativen Emissionen. Um was für Projekte handelt es sich dabei?
Wir arbeiten aktiv an Projekten zur Kohlenstoffabscheidung, bei denen ungefähr 800 000 Tonnen CO₂ pro Jahr abgeschieden werden sollen. Im Zentrum steht dabei das Projekt in Värtan, wo sich einer unserer fünf grossen Produktionsstandorte befindet. Im Jahr 2016 wurde hier ein neues Bio-Heizkraftwerk eingeweiht. Zur Versorgung des Standorts mit Brennstoffen verfügt Stockholm Exergi über eine eigene Hafenanlage in Värtan, Energiehafen genannt. Hierher wird der Bio-Brennstoff – Reste aus der Forstwirtschaft (Äste, Zweige und Baumkronen) – transportiert. Nun soll auf dem Gelände der Energiezentrale eine Anlage zur Abscheidung des biogenen Kohlendioxids aus den Rauchgasen des Heizkraftwerks und zur anschliessenden Verflüssigung entstehen. Drei Schritte werden in dieser BECCS-Anlage (BECCS steht für: bioenergy with carbon capture and storage) ablaufen: Die Rauchgase werden einer Karbonatwäsche unterzogen, bei der das Kohlendioxid in Form von Kaliumhydrogenkarbonat gebunden und so aus den Rauchgasen abgetrennt wird. Im nächsten Schritt wird das Kohlendioxid bei erhöhten Temperaturen und niedrigen Drücken aus dem Kaliumhydrogenkarbonat wieder freigesetzt, um dann schliesslich im dritten Schritt verflüssigt zu werden. Das Kohlendioxid wird vor Ort in Tanks zwischengelagert und kann dann per Schiff zu einer dauerhaften geologischen Lagerstätte in der nordischen Region transportiert werden. Mit dem modernen Bio-Heizkraftwerk wie auch der Nähe zum Energiehafen ist Värtan der ideale Standort für die BECCS-Anlage. Nachdem die Umweltgenehmigung für das Projekt im März 2024 erteilt wurde, soll der Bau der Anlagen zur Abscheidung, Verflüssigung und Zwischenspeicherung im Laufe dieses Jahres beginnen. Gemäss heutigem Stand der Planungen soll die Anlage 2028 in Betrieb gehen.
Stockholm Exergi setzt zudem auf die Digitalisierung. Welche digitalen Lösungen verwendet und bietet Stockholm Exergi an?
Eine digitalisierte Wertschöpfungskette von der Wärme-/Kälteerzeugung bis zum Kunden gewährleistet eine sichere, effiziente und nachhaltige Energieversorgung, auch unter extremen Bedingungen. Sie ermöglicht eine optimierte Energienutzung, bei der die Kunden eine aktive Rolle spielen, beispielsweise bei der dezentralen Energiespeicherung und der nächsten Generation von Fernwärme und Fernkühlung. Dafür entwickelte Stockholm Exergi eine digitale Plattform namens « Intelligy Solutions», die das gesamte Energiesystem steuert, optimiert und wartet. Bestandteile von « Intelligy Solutions» sind eine Cloud-Plattform und IoT-Technologien, die sich modular und einfach implementieren lassen. Für Immobilienbesitzer bietet die Plattform verschiedene digitale Dienste an, wie Heizungsoptimierung und unterschiedliche Überwachungsdienste. Die Lösung senkt auf diese Weise den Energieverbrauch, verbessert das Raumklima von Gebäuden und führt zu einer bis zu zehnprozentigen Steigerung der Energieeffizienz. Aktuell sind bereits mehr als 10 000 Liegenschaften an die Heizungsregulierung und Datenerfassung angeschlossen.
Seit 1990 arbeitet Niclas De Lorenzi bei Stockholm Exergi mit Fernwärmesystemen und Gas und hat insbesondere den Aufbau der Fernkälte in Stockholm mitgestaltet. Heute ist er in den Bereichen Geschäftsentwicklung/F&E, Energiestrategie, Stadtentwicklung und Systemoptimierung tätig. |
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