«Die infrastrukturell bedingte Versorgungslücke kann bis 2025 geschlossen werden, wenn der Erdgasverbrauch europaweit um 20 Prozent sinkt und gleichzeitig die Infrastruktur ausgebaut wird», blickt Mario Ragwitz, Leiter des Fraunhofer IEG, in die Zukunft. «Doch kurzfristig sind massive Anstrengungen zur Senkung des Erdgasbedarfs notwendig.« Das Gutachten «Europäische Gasversorgungssicherheit aus technischer und wirtschaftlicher Perspektive vor dem Hintergrund unterbrochener Versorgung aus Russland» von Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin analysiert mit strömungsmechanischen Modellrechnungen, inwieweit der Erdgasbedarf in Europa mit den vorhandenen Infrastrukturen gedeckt werden kann und wie sich Infrastrukturmaßnahmen auf die Versorgungssicherheit auswirken können.
Für Zeiträume mit Hochlast – also etwa dem durchschnittlichen Verbrauch während einer typischen zweiwöchigen Kälteperiode (definiert entsprechend den TYNDP-DE-Szenarien der europäischen Übertragungsnetzbetreiber) – weist die heutige Erdgasinfrastruktur eine Leistungslücke von etwa 25 Prozent in Europa und etwa 30 Prozent in Deutschland aus (bezogen auf den Verbrauch im Jahr 2021), wenn über die östlichen Pipelines kein russisches Erdgas mehr geliefert wird. Die Leistungslücke besteht selbst bei einer vollständigen Befüllung der Erdgasspeicher und ist durch die Infrastruktur des Netzes bedingt. Über die vorhandenen Terminals und Leitungen lässt sich nicht genügend Gas verteilen, selbst wenn ausreichende Mengen an Erdgas aus anderen Quellen für den europäischen Markt zur Verfügung stünden. Es fehlen mittelfristig leistungsfähige Pipelines für den Import und LNG-Terminals, um größere Erdgasmengen aufnehmen zu können. Die infrastrukturell bedingte Versorgungslücke bezogen auf die Jahresmenge von Erdgas wird etwas kleiner sein, aber in einer ähnlichen Größenordnung liegen. Dies bedeutet, dass auch über das Jahr gerechnet nicht genügend Erdgas in Europa angelandet und verteilt werden kann, wenn der Verbrauch nicht reduziert wird.
Der Bau von LNG-Terminals kann wesentlich dazu beitragen, die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa zu gewährleisten. LNG-Terminals an der Nordsee konkurrieren jedoch mit dem norwegischen Pipeline-Gas um Netzkapazitäten und tragen zu einer hohen Netzauslastung bei. Da das Gasnetz in Nordostdeutschland wesentlich weniger ausgelastet ist und hier bei Lieferstopp kein russisches Gas mehr eingespeist würde, empfehlen sich aus infrastruktureller Sicht Standorte an der Ostsee für den Aufbau von LNG-Terminals.
Eine weitere Herausforderung ist, dass das Pipelinenetz nicht linear bzw. symmetrisch in Ost-West-Richtung verläuft. Röhren mit großem Durchmesser liegen im Osten und nach Westen verzweigt das Netz sich wie ein Adersystem. In einem solchen Netz ist Flussumkehr nicht so leicht möglich, denn es gibt nur eine begrenzte Zahl von Einspeisepunkten mit technisch limitierter Kapazität. Die Modelle zeigen, wo bei Flussumkehr regional hohe Netzbelastung auftritt, etwa zwischen Italien und Österreich oder Deutschland und den Niederlanden. Hier würde der Ausbau der Infrastruktur am meisten helfen, die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Mit hoher Priorität sollte zudem der Umbau von Verdichterstationen entlang der Pipelines erfolgen, um den Gasfluss in die umgekehrte Richtung, also von Ost nach West, flächendeckend zu ermöglichen (Reverse Flow). Selbst wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden, sind erhebliche Einsparungen unumgänglich, um alle europäischen Länder zu versorgen.
Langfristig bis 2025 sind zwei Effekte zu erwarten, die die Leistungslücke schließen können: Zum einen lässt sich durch einen Ausbau der Erdgasinfrastruktur mehr Erdgas transportieren. Zum anderen ist aufgrund der Transformation des Energiesystems ein klimaschutzbedingter Rückgang des Erdgasbedarfs zu erwarten. Der bereits geplante Ausbau der Infrastrukturen bis zum Jahr 2025 könnte die Leistungslücke in Hochlastzeiträumen in Europa auf 20 Prozent reduzieren. Parallel erwarten die europäischen Übertragungsnetzbetreiber, dass der Erdgasverbrauch in Europa bis 2025 um 20 Prozent sinkt, wenn die ambitionierten Klimaschutzmaßnahmen wie ein starker Ausbau der Erneuerbaren, ein breiter Einsatz elektrifizierter und effizienter Anwendungstechnologien (bspw. Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen) sowie ein starker Ausbau der Stromnetze wie geplant umgesetzt werden.
Das Gutachten hat die Auswirkungen eines kompletten Stopps der Erdgaslieferungen aus Russland für Deutschland und Europa simuliert. Ausgangspunkt der Analyse ist ein Transportmodell zur Leistungsbilanzierung der Flüsse zwischen den einzelnen Ländern. Die maximalen Kapazitäten an der Schnittstelle werden dabei als Nebenbedingungen vorgegeben, ebenso wie die Obergrenzen für die Erdgasförderung sowie die LNG- und Pipeline-Importe der einzelnen Länder einschließlich der erwarteten Produktionsmengen.
Zur Berechnung der Gasströme im darauf aufbauenden Flussmodell kam die bei Fraunhofer SCAI entwickelte Simulationssoftware MYNTS (Multiphysical Network Simulator) zum Einsatz. Mit dem von zahlreichen Netzbetreibern eingesetzten Programm lassen sich Betrieb und Planung komplexer Netze für Gas, Strom und Wasser analysieren und optimieren. MYNTS modelliert und simuliert die Netze als System von Algebro-Differentialgleichungen. Die Simulation zeigt, wie sich Änderungen verschiedener Faktoren, etwa Durchflussmengen, auswirken. Dadurch ist es möglich, die Auswirkungen eines Gasstopps nicht nur rein bilanziell, sondern auch regional unter Modellierung der Infrastruktur zu untersuchen.
Parallel zum Gutachten von Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin wurde auch das Gutachten «Szenarien für die Entwicklungen von Commodity-Preisen» durch das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) durchgeführt und heute vorgestellt. Es untersucht u. a. mit Hilfe globaler Gas- und europäischer Strommarktmodelle mehrere Szenarien für die möglichen Preisentwicklungen von Kohle, Erdöl, Erdgas und Strom für die Jahre 2026 und 2030. Die Szenarien variieren in Bezug auf die angenommene Strom- und Gasnachfrage, den Ausbau erneuerbarer Energien und der mittelfristigen Verfügbarkeit von Energieträgerimporten aus Russland.
Beide Gutachten wurde im Auftrag des Akademienprojekts «Energiesysteme der Zukunft» (ESYS) angefertigt und dienen als Basis für einen ESYS-Impuls, der die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die Energiepreise und die Versorgungssicherheit diskutiert. Der Impuls ist abrufbar unter: https://energiesysteme-zukunft.de/publikationen/stellungnahme/energiepreise-versorgungssicherheit.
Mit der Initiative «Energiesysteme der Zukunft» (ESYS) geben acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften Impulse für die Debatte über Herausforderungen und Chancen der Energiewende in Deutschland. Im Akademienprojekt erarbeiten mehr als 160 Fachleute aus Wissenschaft und Forschung Handlungsoptionen zur Umsetzung einer sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Energieversorgung. ESYS wurde im April 2013 gestartet und wird bis Dezember 2023 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Federführung des Projekts liegt bei acatech.
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