Plattform für Wasser, Gas und Wärme
31. Juli 2018

Richtlinie W12

Gute Verfahrenspraxis will Weile haben

Seit gut einem Jahr können sich Wasserversorger auf eine Branchenleit­linie für die gute Verfahrenspraxis, die SVGW-Richtlinie W12, stützen. Der Besuch bei einem Ausbildungskurs zur W12 zeigt: Die Wasserversorgung muss nicht neu erfunden werden, doch die Leitlinie hilft, allfällige Defizite strukturiert anzugehen.

Der strahlende Wintermorgen lässt die alpinen Schönheiten der Thuner Umgebung verlockend erleuchten. Dennoch haben sich rund 20 Teilnehmer zum Kurs «Praktische Einführung in die neue W12» in einem Sitzungsraum der Energie Thun AG eingefunden. Vor jedem Teilnehmer liegen zwei dicke Ordner, einer mit den Kursunterlagen, der andere mit der Richtlinie.

Mag die Literaturhürde gross sein, eine andere haben die Teilnehmer bereits genommen: Mit ihrer Anmeldung zum Kurs haben sie sich entschlossen, mit der W12 zu arbeiten. Und jetzt sind sie hier – allen anderen Versuchungen zum Trotz – und bereit zu lernen, wie sich mit den Unterlagen, die sich zwischen den starren Ordnerdeckeln verbergen, arbeiten lässt. 
Als Erstes müssen sie jedoch nochmals eine theoretische Hürde überwinden. Denn der Kurs beginnt mit der Erläuterung des rechtlichen Rahmens der Leitlinie durch die Trinkwasserexpertin des SVGW, Margarete Bucheli. Dabei dreht sich fast alles um das neue Lebensmittelgesetz, das seit Mai 2017 in Kraft ist. Speziell von Bedeutung für die Wasserversorger sind die vom Gesetz abgeleiteten Verordnungen über Trinkwasser sowie Wasser in öffentlich zugänglichen Bädern und Duschanlagen (TBDV) sowie zu Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständen (LGV). Letztere ist es auch, welche die Möglichkeit von Branchenleitlinien explizit erwähnt.

Nach diesem Rechtsexkurs sind die Kursteilnehmer fast schon in der W12 drin. Es fehlt noch ein kurzer Inhaltsüberblick über die Richtlinie. Diesen gewährt wiederum Margarete Bucheli. Sie verweist dabei auf das Herzstück der W12: das Kapitel 5. Denn hier werde beschrieben, wie man mit den umfassenden Unterlagen konkret arbeite. Die Hürde W12 ist damit nicht übersprungen, doch die Latte gewiss tiefergelegt.

Interpretationsspielraum in der Praxis

Fleisch an den Knochen erhalten Wörter wie «Leitlinienpunkte», «Modul» oder «Risikomanagement» erst, als Andreas Peter, der als Verantwortlicher für die Wasserqualität bei der Wasserversorgung Zürich die Probleme aus der Praxis kennt, anhand eines Fallbeispiels mit den Teilnehmern mit dem Regelwerk zu arbeiten beginnt. Als Erstes gilt es herauszufinden, welche Bedeutung einem Organigramm für die gute Verfahrenspraxis zukommt. Basierend auf der W12 und den Unterlagen einer kleinen Wasserversorgung im Aargau sollen die Teilnehmer eine Einschätzung vornehmen. Das Klacken beim Öffnen und Schliessen der Ordnerringe ist ein Indiz, die Arbeit mit der W12 hat begonnen. Die Besprechung der Aufgabe zeigt, dass die Mehrheit das Fehlen des Organigramms als kein grösseres Risiko erachtet, aber das Problem gelöst werden sollte. Diese Einschätzung deckt sich mit der Ansicht der zuständigen Behörde, die Peter den Teilnehmern auch nicht vorenthält. Trotzdem deutet sich bereits bei diesem Punkt an, dass es nicht für jeden Fall eine einheitliche Beurteilung gibt, sondern dass Interpretationsspielraum besteht. Das bestätigt auch der Experte. Die Erarbeitung weiterer Beispiele zu den Leitlinienpunkten «GIS-basierte Karten» oder «Prozessüberwachung» lässt die Höhe der Zutrittshürde zur W12 schrumpfen. Zudem erhält die Frage eines Kursteilnehmers, ob man alle Punkte des Regelwerks durcharbeiten müsse, eine Antwort. Denn erstens realisieren die Anwesenden, dass nicht alle Punkte ihre Versorgung betreffen. Gerade bei der Aufbereitung können viele Punkte weggelassen werden, z. B. alle Punkte des Moduls Ultrafiltration, wenn diese nicht vorhanden ist. Zweitens wird auch klar, dass bei der Mehrheit der Punkte in den verschiedenen Betrieben bereits eine regelkonforme Lösung existiert. Es geht also in dieser Situation nur noch darum, den Punkt abzuchecken. Weitere Aufgaben fallen nicht an. Andreas Peters Vorhersage zu Kursbeginn, dass die Teilnehmer auf viel Vertrautes stossen werden, hat sich somit schnell bewahrheitet.

Die eigene Versorgung unter der Lupe

Die Vertrautheit mit den Herausforderungen der Wasserversorgung soll aber nicht zu falscher Behaglichkeit führen. Dass dies nicht geht, merken die nun schon etwas geübteren Hürdenläufer der W12-Ausbildung bei der Vorbereitung auf und am zweiten Kurstag selbst. Denn jetzt geht es darum, das Selbstkontrollkonzept der W12 auf die eigene Versorgung anzuwenden. Dabei entdecken die Teilnehmer doch noch einige Verbesserungsmöglichkeiten in ihrer Versorgung. So bestehen Unsicherheiten, wie der Prozess der UV-Desinfektion zu überwachen ist. Stellt beispielsweise das Fehlen einer Durchflussbegrenzung ein grosses Risiko dar? Auch die Desinfektion mit Chlor wirft Fragen auf. Muss hier zwingend auf Desinfektionsnebenprodukte hin untersucht werden? Schliesslich möchten einige Teilnehmer noch mehr dazu erfahren, wie Spülpläne sinnvoll gestaltet werden können. 
Anhand der Diskussionen zu diesen Fragen erkennen die Teilnehmer zunehmend die Bedeutung des vierten Teils der Richtlinie, der sich der Gefahrenanalyse und den damit verbundenen Korrekturmassnahmen widmet. Beispielsweise ist eine Durchflussbegrenzung bei der UV-Desinfektion angezeigt, wenn die Desinfektionsleistung trotz genügender Bestrahlungsstärke zu gering ist.

Vom Hürdenlauf zum Spaziergang

Dem einen oder anderen beginnt bei gewissen Fragen, vor allem wenn sie seine Versorgung nicht direkt betreffen, der Kopf etwas zu rauchen. Trotzdem scheinen die Teilnehmer aber den Aufwand für den «Hürdenlauf» W12 nicht zu bereuen. Einer meint, dass es wirklich eine gute und übersichtliche Richtlinie sei und diese bei der Überarbeitung des Qualitätssystems helfe. Ein anderer betont die Wichtigkeit der Diskussionen. Bereits sind auch Verbesserungsvorschläge vorhanden. So will einer mehr wissen über die Trinkwasserversorgung in Notlagen und ein anderer fordert, dass auch die Ozonung und Aktivkohle berücksichtigt werden. Das wäre für kleine Seewasserwerke wertvoll.

Eine wichtige Botschaft nehmen die Teilnehmer aus der W12-Schulung gewiss mit nach Hause: Die gute Verfahrenspraxis ist eine Daueraufgabe, die aber zunehmend leichter wird. Denn werden die geplanten Massnahmen konsequent umgesetzt, stellt das eine permanente Optimierung dar, und der anfängliche Hürdenlauf kann in Zukunft fast zu einem Spaziergang werden.

 

Kommentar erfassen

Kommentare (0)

e-Paper

«AQUA & GAS» gibt es auch als E-Paper. Abonnenten, SVGW- und/oder VSA-Mitglieder haben Zugang zu allen Ausgaben von A&G.

Den «Wasserspiegel» gibt es auch als E-Paper. Im SVGW-Shop sind sämtliche bisher erschienenen Ausgaben frei zugänglich.

Die «gazette» gibt es auch als E-Paper. Sämtliche bisher erschienen Ausgaben sind frei zugänglich.