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Fachartikel
09. Dezember 2024

Interview mit Simon Haag und Adrian Rieder

«Revidierte Richtlinie W6 – aktualisiert und praxisorientiert»

Eine der zentralen Richtlinien des SVGW im Bereich Wasser ist die W6 für Projektierung, Bau und Betrieb von Wasserbehältern, die in ihrer jetzigen Fassung aus dem Jahr 2004 stammt. Bei diesem Alter der Richtlinie war eine grundlegende Überarbeitung angebracht. Dafür wurde von der zuständigen Wasser-Unterkommission eine Arbeitsgruppe gebildet. Adrian Rieder von der Wasserversorgung Zürich leitete das Revisionsprojekt und Simon Haag von IWB verfasste grosse Teile der Richtlinie. Die beiden berichten im Interview von den Zielen und dem Ablauf der Revision und stellen die «neue» W6 vor.
Margarete Bucheli 

Seit rund 20 Jahren gibt es die aktuell gültige SVGW-Richtlinie W6 für Reservoirs. Demnächst wird eine revidierte W6 erscheinen. Was waren die Beweggründe, diese zu überarbeiten?

Adrian Rieder: Ich gehe davon aus, dass fast alle Wasserversorgungen in der Schweiz Reservoirs bewirtschaften und sich deshalb mit Themen auseinandersetzen müssen, die den gesamten Lebenszyklus von der Planung über den Bau bis hin zu Betrieb und Instandhaltung betreffen. Somit ist der Nutzerkreis sehr gross. Es war uns in der Wasser-Unterkommission 3 «Wassergewinnung, -speicherung und -verteilung» wie auch in der Arbeitsgruppe, die für die Revision der W6 speziell gebildet wurde, ein grosses Anliegen, eine aktuelle, praxisorientierte und komplett überarbeitete Richtlinie vorzulegen. Des Weiteren sollte die Richtlinie, ähnlich wie die Richtlinien W4 und W9, prozessorientiert aufgebaut sein, vertieft betriebliche Themen und überdies zusätzliche Themen wie die Instandhaltung behandeln.

Simon Haag: Zusätzliche Gründe für eine Überarbeitung waren einerseits eine Weiterentwicklung der Sprache respektive der verwendeten Begrifflichkeiten und andererseits auch verschiedene technische Weiterentwicklungen, wie beispielsweise im Bereich der Automatisierung. Sprich, in der neuen W6 sollte das abgebildet werden, was schon seit Längerem in den schweizerischen Wasserversorgungen mit ihren Reservoirs gelebt wird, sodass die Richtlinie wieder die anerkannten Regeln der Technik beschreibt.

«In der neuen W6 sollte das abgebildet werden, was schon seit Längerem in den schweizerischen Wasserversorgungen mit ihren Reservoirs gelebt wird.»

Welche Grundlagen wurden bei der Ăśberarbeitung der Reservoir-Richtlinie beigezogen? Woher stammt das Fachwissen und welche Fachleute wurden bei der Ăśberarbeitung einbezogen?

A. R.: Zunächst einmal sind wir die bestehende W6 durchgegangen und haben geschaut, welche Elemente aus dieser, allenfalls leicht angepasst, übernommen werden konnten. Daneben stützten wir uns auch auf die mehrteilige Arbeitsblattreihe W 300 des DVGW zu Trinkwasserbehältern ab. Wichtig war zudem der Einbezug verschiedener Fachpersonen aus Wasserversorgungen, Ingenieurbüros und Behörden, die in der Arbeitsgruppe zur W6 und verschiedenen Unterarbeitsgruppen zu einzelnen Themen ihre Erfahrung und ihr Praxiswissen einbringen konnten. Es war eine erfreuliche und engagierte Zusammenarbeit über die Sprachgrenzen hinweg.

S. H.: Neben den DVGW-Arbeitsblättern, die wir intensiv angeschaut und genutzt haben, sind auch ÖVGW-Richtlinien zu nennen, hier vor allem die Richtlinie W 103 «Trinkwasserbehälter und Bauwerke der Wasserversorgung; Grundlagen für Planung, Bau und Sanierung». Schliesslich haben wir auch Fachliteratur beigezogen, zum Beispiel das Buch «Trinkwasserbehälter – Planung, Bau, Betrieb, Schutz und Instandsetzung» von Gerhard Merkl und das Handbuch der Wasserversorgungstechnik von Peter Grombach und Co-Autoren.

Welche neuen Elemente wird die revidierte W6 enthalten?

S. H.: Der Vergleich der Inhaltsverzeichnisse der bestehenden und der revidierten W6 zeigt, dass wirklich neu die Kapitel «Allgemeiner Prozess- und Planungsablauf», «Vorstudien», «Ausschreibung», «Rückbau» und «Dokumentation» sind. Zu diesen Themen enthält die bestehende Richtlinie kaum Informationen. Darüber hinaus wurden in vielen Bereichen, die in der bestehenden W6 bereits behandelt werden, einzelne Aspekte ergänzt oder angepasst, beispielsweise zu den Themen Automatisierung, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik oder Instandhaltungszyklus.

A. R.: Des Weiteren wurden einige Anhänge mit Praxisbeispielen und Checklisten aktualisiert respektive ergänzt. Insgesamt haben wir versucht, dem Instandhaltungsmanagement sowie den operativen, betrieblichen Belangen mehr Gewicht zu geben. Auch dafür wurden praxisorientierte Beispiele und Empfehlungen in die Anhänge aufgenommen. Dass dem Thema der Instandhaltung deutlich mehr Raum gegeben wird, schlägt sich auch im Titel der neuen W6 nieder: «Richtlinie für Trinkwasserreservoirs – Planung, Projektierung, Bau, Betrieb und Instandhaltung von Reservoirs».

Wie ist die neue W6 aufgebaut? Welche Struktur liegt ihr zugrunde?

A. R.: Wie bereits in der Richtlinie W4 für Wasserverteilung und in der Richtlinie W9 für Grundwasserbrunnen umgesetzt, ist auch die revidierte W6 prozessorientiert aufgebaut und folgt den im Bau- und Ingenieurwesen etablierten SIA-Projektphasen von der strategischen Planung (Phase 1) über Vorstudien (Phase 2), Projektierung (Phase 3) und Ausschreibung (Phase 4) bis hin zur Ausführung (Phase 5). Aber auch die sich an den Bau anschliessenden Phasen der Bewirtschaftung des Reservoirs, die Betrieb und Instandhaltung umfasst, sowie des Rückbaus werden beschrieben.

S. H.: Um die Lesbarkeit der Richtlinie zu verbessern, wurden Ergänzungen geschaffen. In die Ergänzungen wurden gewisse Themen ausgelagert, um diese in der nötigen Ausführlichkeit und Detailliertheit behandeln zu können, ohne die Hauptrichtlinie dadurch unnötig aufzublähen. Ausserdem können die Ergänzungen so auch unabhängig von der Hauptrichtlinie aktualisiert werden. Es wurde auf diese Weise also ein höheres Mass an Flexibilität geschaffen. Das Gleiche gilt für die bereits erwähnten Anhänge der Hauptrichtlinie, was es erlaubt, aktuelle Praxisbeispiele zu ergänzen oder Checklisten leichter anpassen zu können.

«In die Ergänzungen wurden gewisse Themen aus-gelagert, um diese in der nötigen Ausführlichkeit und Detailliertheit behandeln zu können, ohne die Hauptrichtlinie dadurch unnötig aufzublähen.»

Ein erklärtes Ziel bei der Überarbeitung der W6 war, mit der Richtlinie praxisorientierte Vorgaben zu schaffen. Wie wurde das umgesetzt?

A. R.: Bei den Arbeiten an der Richtlinie haben wir die Sicht der Auftraggebenden, also der Wasserversorgungen, eingenommen. Welche Kenntnisse, Vorgaben und Hilfestellungen brauchen diese rund um die Wasserspeicherung und die dazugehörigen Bauwerke? Diese Frage war die Richtschnur für die Überarbeitung der W6. Was wir auf keinen Fall wollten, war, ein Handbuch für Fachingenieure und Experten zu erstellen.

S. H.: Darüber hinaus haben wir versucht, den Fokus nicht nur auf sehr grosse Reservoirs zu legen, sondern auch mittlere und kleine Reservoirs, wie sie in der Schweiz häufig anzutreffen sind, abzubilden. Des Weiteren haben wir versucht, hilfreiche Eck- oder Richtwerte – wo immer möglich – in die Richtlinie aufzunehmen, um so konkret wie möglich die anerkannten Regeln der Technik darzustellen und nicht zu sehr in allgemein gehaltenen Ausführungen zu verbleiben.

 

Schauen wir uns die revidierte W6 im Detail an: Welches sind die wichtigsten Neuerungen respektive Ă„nderungen in der Richtlinie?

S. H.: Neben den bereits erwähnten neu behandelten Themen gibt es eigentlich wenig grundlegende Änderungen, sondern es handelt sich eher um Präzisierungen. Ein, zwei Themen möchte ich aber doch hervorheben, wo Erfahrungen aus der Praxis zu Änderungen der in der W6 zusammengestellten Regeln der Technik geführt haben. Eines betrifft Beschichtungen: In der neuen W6 wird empfohlen, beim Neubau von Reservoirs generell auf Beschichtungen in den Wasserkammern zu verzichten, denn der Betonrohbau hat sich bewährt. Dafür werden jedoch sehr hohe Anforderungen an den Betonrohbau, vor allem die Qualität der Betonoberfläche, gestellt. Zudem wird auch von fixen Beleuchtungssystemen in den Wasserkammern neu abgeraten. Stattdessen wird vorgeschlagen, bei Unterhaltsarbeiten mit temporären Beleuchtungsinstallationen zu arbeiten. Für die Sichtprüfung während des Betriebs sind in Drucktüren integrierte Beleuchtungssysteme grundsätzlich ausreichend. Ein weiterer Punkt, der in der neuen W6 anders behandelt wird als früher, ist die Ausgestaltung der Zu- und Ableitungen. Früher wurden beispielsweise für die Zuleitung Verteilbalken propagiert oder auch Wände zum Umlenken des Wassers. In der neuen W6 wird nun empfohlen, auf solche Einbauten oder Verteilbalken zu verzichten. Hingegen wird geraten, den Zulauf so zu gestalten, dass bei der Befüllung, wo immer möglich, ein Impuls gegeben und damit eine Durchmischung mit einer guten Verteilung der Aufenthaltszeiten der einzelnen Wasserpakete erreicht wird. Hier beziehen wir uns auf relativ alte Regeln der Technik, die aus den 70er- und 80er-Jahren stammen und in den beiden vorgängig genannten Fachbüchern beschrieben werden.

A. R.: Im Vergleich zur bestehenden W6 wurde ausserdem der Fokus ein wenig verschoben respektive der Fächer weiter aufgemacht. Es wurden Themen aufgenommen, die im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der Reservoirs von Bedeutung sind. Neben dem konstruktiven Betonbauwerk gibt es neu auch Empfehlungen und Vorgaben zu anderen Gewerken, wie elektrischen Installationen, Rohrleitungen und Armaturen, Lüftung etc. In den Ausführungen zur Substanzbewertung werden ebenfalls nicht nur die Betonkonstruktion und die Wasserkammern angeschaut, sondern diese anderen Infrastrukturen sind auch miteingeschlossen. Schliesslich haben Aspekte wie die Sicherstellung der Trinkwasserqualität im Kontakt mit Oberflächen oder Erkenntnisse zu Korrosion respektive Schutzmassnahmen gegen die Korrosion in den Praxisbeispielen und Ergänzungen Eingang gefunden. Die neue W6 beschreibt das Reservoir also ganzheitlicher und umfassender als bis anhin.

Zusätzlich zur Richtlinie W6 gibt es – wie bereits mehrfach erwähnt – neu Ergänzungen. Wie stehen die Ergänzungen zur Hauptrichtlinie und welche Themen behandeln diese?

A. R.: Drei Ergänzungen zur Hauptrichtlinie wurden erarbeitet, und zwar die W6/E1 «Materialien in Kontakt mit Trinkwasser», die W6/E2 «Korrosionsschutz» und schliesslich die dritte im Bunde, die W6/E3 «Reinigung und Desinfektion». Hierzu wurden externe Spezialistinnen und Spezialisten beigezogen: zum Thema Materialien Fachleute auf dem Gebiet von Beton der Empa und der Holcim, zum Thema Korrosionsschutz Fachleute der Schweizerischen Gesellschaft für Korrosionsschutz (SGK) und zum Thema Reinigung und Desinfektion Fachleute von kantonalen Ämtern. Zu allen drei Themengebieten finden sich kurze, grundlegende Ausführungen in der Hauptrichtlinie, von wo aus auf die jeweilige Ergänzung verwiesen wird.

Wo steht die neue W6 aktuell und wie sieht der weitere Fahrplan aus?

A. R.: Die Vernehmlassung der überarbeiteten W6 innerhalb der Branche hat eine grosse Zahl von Rückmeldungen ausgelöst. Diese haben wir zunächst in einem kleinen Kernteam, bestehend aus Simon Haag, Markus Biner und mir, durchgearbeitet. Die «einfachen» Änderungswünsche haben wir gleich umgesetzt. In einer Sitzung der W6-Arbeitsgruppe Ende Oktober wurden die restlichen Rückmeldungen diskutiert und, wo demnach nötig, Anpassungen vorgenommen. Die jetzige Version der W6 wurde von der Wasser-Hauptkommission an den Vorstand weitergeleitet, der sie dann in seiner Dezembersitzung behandeln und in Kraft setzen wird. Geplant ist, die revidierte Richtlinie im ersten Halbjahr 2025 zu veröffentlichen.

S. H.: Wir möchten gerne die Gelegenheit nutzen, uns für die Teilnahme an der Vernehmlassung und die zahlreichen Rückmeldungen zu bedanken. Dabei wurde von vielen Personen viel Zeit investiert. Ihre Rückmeldungen und Änderungsvorschläge waren sehr wertvoll und haben die W6 enorm weitergebracht.

«Nur wenn Richtlinien praxistaugliche und pragmatische Vorgaben enthalten, werden sie von der Branche angenommen und gelebt.»

Was ist fĂĽr die EinfĂĽhrung bzw. Vorstellung der grundlegend ĂĽberarbeiteten Reservoir-Richtlinie geplant?

A. R.: Vor fast 10 Jahren, im Januar 2015, haben wir eine Wasserfachtagung zum Thema Reservoir durchgeführt. Weil ein Grossteil der Reservoirs in der Schweiz mittlerweile in die Jahre gekommen ist, standen bei dieser Veranstaltung Fragestellungen zu Zustandsbewertung, Sanierung und Instandhaltung im Zentrum, also Aspekte, um welche die neue W6 ergänzt wurde. Die Fachtagung damals war mit über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein voller Erfolg. Wir sind nun daran, für die Einführung der neuen W6 wiederum eine Fachtagung zu organisieren. Dabei sollen anhand von Praxisbeispielen die in der W6 dargelegten Regeln der Technik vorgestellt werden.

FrĂĽher wurden die Richtlinien im Milizsystem, sprich durch die Mitglieder der Kommissionen bzw. Arbeitsgruppen, erarbeitet. Wie wurde nun bei der grossen Ăśberarbeitung der W6 vorgegangen?

S. H.: Begonnen wurden die Arbeiten mit einer Sitzung der für die Revision der W6 extra zusammengestellten Arbeitsgruppe. Dabei wurde die inhaltliche Struktur der Richtlinie inklusive der Auslagerung von Spezialthemen in Ergänzungen festgelegt. Dabei wurde ebenfalls klar, dass es nicht möglich ist, alle Arbeiten, vor allem auch das Schreiben der Texte, durch die Mitglieder der Arbeitsgruppe im Milizsystem ausführen zu lassen. Daher wurde ich gefragt, ob ich nicht eine erste Fassung der Richtlinien im Mandatsverfahren schreiben könnte als Grundlage für weitere Diskussionen und Verbesserungen durch die Arbeitsgruppe. Diese Aufteilung der Arbeiten hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen.

Welche Vorgehensweise erachteten Sie fĂĽr die Zukunft als angepasst und vielversprechend?

A. R.: Wie sich bei der Revision der W6, aber auch bei anderen Richtlinien gezeigt hat, kommt das Milizsystem immer mehr an seine Grenzen. Die Verfügbarkeit von Fachspezialisten aus den Versorgungsbetrieben, Ingenieurbüros oder Behörden ist immer weniger gegeben. Daher braucht es enorm viel Zeit, bis die Arbeiten abgeschlossen werden können. Trotzdem ist es wichtig, dass wir die Praxis und das pragmatische Vorgehen nicht aus den Augen verlieren. Es ist zentral, dass wir diese Leute miteinbeziehen und so das Betreiberwissen nicht verloren geht. Kurz und gut, es braucht beides, die Erarbeitung durch ausgewiesene Spezialisten auf Mandatsbasis und das Überprüfen und Konsolidieren der Ausführungen durch Fachleute aus der Praxis. Nur wenn Richtlinien praxistaugliche und pragmatische Vorgaben enthalten, werden sie von der Branche angenommen und gelebt.

 

Zu den Personen
Der Diplomingenieur Adrian Rieder ist Geschäftsleitungsmitglied der Wasserversorgung Zürich und verantwortlich für den Bereich Wasserverteilung mit den Abteilungen Planung, Projektierung, Haustechnik und Netzdienst. Zudem engagiert er sich sehr beim SVGW: Er leitet die W-UK3 «Wassergewinnung, -speicherung und -verteilung» und ist damit auch Mitglied der W-HK.
Der ETH-Umweltingenieur und Hydraulik-Experte Simon Haag war lange bei der Rapp AG in den Bereichen Siedlungsentwässerung und Trinkwasser tätig. Seit Sommer 2023 ist er Leiter Engineering Trinkwasserproduktion bei IWB und Hardwasser AG sowie Experte und Gutachter bei der Hydroexperts GmbH.

 

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