Forschende der Abteilung Aquatische Ökologie und Evolution des Instituts für Ökologie und Evolution der Universität Bern zeigen in Zusammenarbeit mit der Eawag in einer neuen, in Nature Communications veröffentlichten Studie, dass rund 90% der potenziellen Lebensräume von Süsswasserfischen in der Schweiz durch menschliche Einflüsse negativ beeinträchtigt sind. Dazu gehören beispielsweise unnatürliche Bedingungen in Fliessgewässern wie künstliche Ufer und Barrieren, die die Wanderung von Arten in Flüssen und Seen behindern.
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass 40% aller Flusseinzugsgebiete als Lebensraum für die gefährdete Fischart Schneider (Alburnoides bipunctatus), die in der Studie untersucht wurde, geeignet wären, und zwar aufgrund der natürlichen Bedingungen für das Überleben, das Wachstum und die Fortpflanzung der Art. Der grösste Teil dieses geeigneten Gebiets ist jedoch durch menschliche Einflüsse beeinträchtigt, die sich negativ auf die Art auswirken, wie die Studie zeigt. «Diese Ergebnisse liefern auch neue Erkenntnisse zur möglichen Ursache für den Rückgang des Schneiders», so Waldock.
Ähnliche Ergebnisse wurden auch für die anderen untersuchten Fischarten gefunden, bei denen im Durchschnitt rund 90% der potenziellen Lebensräume negativ durch menschliche Aktivitäten beeinflusst werden. Bei rund der Hälfte der Flussstandorte, die als potenzielle Lebensräume für Fische identifizierten wurden, wirken mehrere menschliche Einflüsse zusammen und beeinträchtigen so die Fischpopulationen. «Es gibt viele Forschungsgruppen, die untersuchen, wie die Umwelt die Verbreitung und Bedrohung von Arten beeinflusst. Diese neue Studie ist jedoch wahrscheinlich die erste, die menschliche Einflüsse von natürlichen Faktoren trennt, um differenziertere Informationen für den Artenschutz zu erhalten», sagt Ole Seehausen, Mitautor und Professor für Ökologie und Evolution an der Universität Bern.
Diese durch den Menschen negativ beeinflussten Gebiete innerhalb des optimalen Lebensraums einer Fischart werden als «Schattenverbreitung» der jeweiligen Art bezeichnet, ein neuartiger Begriff, der in dieser Studie geprägt wurde. «Ohne die Schattenverbreitung der Arten aufzudecken, haben wir möglicherweise nicht das gesamte Potenzial der Biodiversität in den Schweizer Flussökosystemen erkannt. Mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind wir in der Lage, besser zugunsten der geschwächten Artenvielfalt zu handeln», so Hauptautor der Studie Conor Waldock weiter.
Aufbauend auf der aktuellen Studie entwickelt die Forschungsgruppe zusammen mit mehreren Beteiligten am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und dem Schweizerischen Kompetenzzentrum Fischerei nun einen Ansatz, um die wichtigsten Standorte und Massnahmen zur Erhaltung der Biodiversität in Flussökosystemen zu ermitteln. Bei diesem Ansatz werden die Gebiete, in denen Arten aktuell vorkommen, als auch die neu entdeckten Schattenverbreitungen, in denen sie potenziell leben könnten, sowie die Orte, an denen diese Arten am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden, gemeinsam betrachtet. «Die begrenzten Ressourcen für den Naturschutz sollten strategisch eingesetzt werden, um den grösstmöglichen Nutzen für die biologische Vielfalt zu erzielen. Wir hoffen, dass unsere hier gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse den Entscheidungsträgerinnen und -trägern im Umweltbereich unmittelbar relevante Informationen liefern können», sagt Waldock abschliessend.
Um zu bestimmen, in welchen Bereichen des natürlichen Lebensraums einer Fischart der Mensch den grössten Einfluss auf den Fischbestand hat, haben die Forschenden Daten zu den Populationen von neun Fischarten im gesamten Aare-Rhein-Einzugsgebiet gesammelt. Diese Daten verknüpften sie anschliessend mit zahlreichen Umweltfaktoren, die sowohl natürliche als auch vom Menschen verursachte Einflüsse darstellen. Um Zusammenhänge zwischen den Umweltfaktoren und dem Vorkommen von Fischpopulationen zu finden, nutzten die Forschenden einen Forschungsansatz, bei dem maschinelles Lernen eingesetzt wurde. Dieser herkömmliche Ansatz konnte jedoch nur zeigen, wo Arten am wahrscheinlichsten vorkommen, nicht aber, welche Faktoren ihr Vorkommen dort ermöglichen oder verhindern. «Deshalb wendeten wir in einem nächsten Schritt ‘Erklärbare Künstliche Intelligenz’ an, die für 15’000 Flusseinzugsgebiete in der Schweiz aufzeigte, welche Umweltfaktoren dafür ausschlaggebend sind, ob der jeweilige Standort gut oder schlecht für die einzelnen Arten ist», erklärt Conor Waldock.
(Medienmitteilung Universität Bern)
Medienmitteilung Universität Bern
Diese Studie ist Teil des Projekts LANAT-3 «Biodiversitätsverlust der Gewässer stoppen – trotz Klimawandel». Dieses Projekt wird von der Wyss Academy for Nature im Rahmen des Umsetzungsprogramms mit dem Kanton Bern (Amt für Landwirtschaft und Natur) und dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) finanziert.
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